Nichts außer Fußspuren

Gefährliche Schönheit: Was genau ist Urban Exploration?


Diese verfallene Schwangondel steht im Spree-Park in Berlin.

Diese verfallene Schwangondel steht im Spree-Park in Berlin.

Genau das machen, was Mama einem immer verboten hat, am Besten noch ein paar coole Fotos schießen: Urban Exploration riecht nach Abenteuer, Romanik und Rebellion und ist durch Facebook und Co. auch Nicht-Urbexern ein Begriff. Doch so abenteuerlich das Erkunden verlorener Plätze auch ist - es ist alles andere als ungefährlich.

Zu einem guten Urban Explorer gehören: Kamera, Stativ, Smartphone, Landkarte und gute Schuhe. Er darf keine Angst vor der Dunkelheit haben und braucht einen guten Orientierungssinn. Zudem gehört Glück dazu, denn so richtig legal ist das, was die meisten Urban Explorer machen, auch nicht.

Von Urban Exploration, kurz Urbex, spricht man dann, wenn jemand Plätze wie alte Häuser, stillgelegte Kraftwerke oder Industrieruinen erkundet. Es gehen aber auch Kanalisationen, Katakomben, Dächer oder Parks - Hauptsache, der Platz steht schon seit längerer Zeit leer und ist dem Verfall preisgegeben. Als Urahn der Urban Explorer hat einer der berühmtesten UrbExer, Jeff Chapman, alias Ninjalicious, den Franzosen Philibert Aspairt bezeichnet. Der wollte 1793 die kilometerlangen Katakomben unter Paris erforschen und verirrte sich in dem Labyrinth. Erst elf Jahre später tauchten seine Überreste in den Katakomben wieder auf.

In den Medien und im Internet wird der Begriff "Urban Exploration" seit Mitte der 2000er Jahre verwendet. Streng genommen beschrieb er zunächst das Erkunden von Orten in der Stadt, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Schnell erweiterten die Urban Explorer ihre Ziele aber um die "Lost Places", verlorene Orte außerhalb der Städte. Ging es zu Beginn den meisten Urban Explorern darum, die Plätze, in die sie nicht hineindurften, zu sehen, hat sich seit ein paar Jahren das Fotografieren der verlorenen Orte zum festen Bestandteil des Hobbys entwickelt. Ein Urban Explorer, der schon länger dabei ist, macht dafür Soziale Netzwerke wie Facebook verantwortlich. "Jeder kann seine Fotos der Welt zeigen und bekommt dafür sofort Anerkennung", sagt ein junger Mann, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. 100-prozentig begeistert ist er von diesem Trend aber nicht.

"Hinterlasse nichts außer deine Fußspuren" ist einer der wichtigsten Grundsätze der Urban Explorer, der in jeder Gruppe und auf jedem Forum zu lesen ist. Damit ziehen sie zum einen eine klare Linie zu den Vandalen und Sprayern, die in alten Gebäuden ihre Emotionen und ihren Künstlerdrang herauslassen. Zum anderen dient es der eigenen Sicherheit. "Das was wir hier machen ist, wenn man es ganz streng betrachtet, Hausfriedensbruch", schreibt ein anderer auf Facebook. Wer ungesehen und ohne Spuren zu hinterlassen in einem Gebäude herumforscht, hat später weniger Probleme mit Polizei und Hausbesitzern.

Das Fotografieren verlorener Plätze und das Austellen der Fotos aus Facebook und Co. hat die Urban Expolorer in den Mittelpunkt der Gesellschaft geholt. Auf einmal entdecken Städte wie Berlin und Hamburg ihre alten Bauruinen als Touristenattraktionen und dank der vielen Fotos lässt sich manchmal recht leicht verfolgen, wer wann in welchem Gebäude war.

Unauffällig sein

Das Interesse der Medien und damit der Öffentlichkeit steigt. Trotzdem bemühen sich die meisten Urban Explorer weiter darum, so unauffällig wie möglich zu sein. Fragt ein User in einer Urban Exploration Gruppe nach der genauen Lage des verlorenen Platzes, von dem er gerade ein paar tolle Fotos entdeckt hat, fragt, bekommt in der Regel nur einen Hinweis auf die Gruppenregeln. Die lauten: Plätze werden nicht verraten.

Urban Exploration fasziniert. Warum das so ist, beantwortet jemand, der auf den ersten Blick mit dem Hobby so gut wie gar nichts zu tun hat. Kai Meyer ist Fantasy- und Horrorautor und schreibt normalerweise eher von verwunschenen Ländern und magischen Büchern als von verfallenen Ruinen. Und trotzdem: Immer, wenn Meyer in Leipzig auf der Buchmesse war, zog ihn das Astoria-Hotel ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs magisch an. Der Komplex steht seit Jahrzehnten leer und er inspirierte ihn zu einer Kurzgeschichte, die mittlerweile im Beiheft des Albums "Astoria" der Band "ASP" zu finden ist. Die Faszination der verfallenen Orte ist für ihn gar nicht so anders als die einer guten Gruselgeschichte. Urban Explorer blicken dem Verfall direkt in die Augen, sagt der Autor. "Verlassene Orte konfrontieren uns damit, wie kurzlebig die Errungenschaften unserer Zivilisation sind. Nur, dass leerstehenden Gebäuden oft auch eine große Ästhetik und Schönheit innewohnt."

Dieser Ästhetik folgen die Urban Explorer - mittlerweile nicht mehr ganz so geheim, wie sie es einmal getan haben.

Ein 19-Jähriger über seinen schönsten UrbEx-Moment

Vorsichtig krieche ich unter einer halb zerbrochenen Tür durch. Der Geruch von schimmligem Holz und feuchten Wänden weht mir entgegen. Es ist stockfinster. Nur durch ein paar Schlitze an vernagelten Fenstern dringt ein wenig Licht in den Raum. Vor mir liegt ein langer Gang, der schier unendlich wirkt. Er führt ins schwarze Nichts. Ich befinde mich in einem verlassenem Gebäude - irgendwo in Deutschland. Früher war das hier ein Ballsaal, hier unten der Eingang mit Abendkasse. Wir schleichen tiefer hinein. Eine einsam leuchtende Handytaschenlampe vertreibt das Schwarz. Zwei Abbiegungen links später stehen wir vor einer großen Treppe. Die Stufen sehen morsch aus. Mit den Füßen taste ich mich langsam nach oben. Jeder Schritt bringt das morsche Holz laut zum Knarren. Plötzlich mischt sich zu diesem geisterhaften Geräusch eine sanfte Klaviermelodie. Ich schrecke hoch. Die Musik dringt aus dem Raum, der mich am Ende der Treppe erwartet. Voller Erwartung steige ich sie empor und stehe plötzlich in einem riesigen Saal mit endlos hoher Decke. Die Tapete blättert von den Wänden ab. In der Mitte steht ein altes Klavier, an dem ein braunhaariges Mädchen sitzt und spielt. Jemand fotografiert sie. Eine Gänsehaut schleicht über meinen Körper. Ich bin im Ballsaal. Ich schieße ein paar Fotos von diesem beeindruckenden Ort, doch keins der Bilder fängt die Emotionen und die Stimmung ein, die uns in dem verfallenen Ballsaal ansteckt. Ich plaudere kurz mit den anderen Besuchern. Dann schleiche ich mich wieder aus dem alten Gebäude hinaus.

Eine 20-Jährige über ihren schönsten UrbEx-Moment

"Sollen wir das nicht abgeschlossene Stück Vergangenheit betreten?", frage ich meine beiden Freunde. Sie sind ratlos. Ich blicke immer wieder um mich herum. "Was passiert, wenn uns jemand auf dem Grundstück erwischt? Ruft er die Polizei?" Immerhin stehen wir mitten in einem Wohngebiet. Vor uns das Gebäude, das uns so neugierig macht: die ehemalige irakische Botschaft in Berlin. Seit dem Golfkrieg, 1991, steht sie leer. Alle irakischen Diplomaten mussten damals ausreisen. Es muss eine schnelle Flucht gewesen sein, weil die Tür sperrangelweit offen steht. Wir betreten das alte Haus. Auf dem Boden liegen alte Tonbänder, Bücher, Aktenordner, arabische Zeitungen und Visa-Anträge, die vor sich hin schimmeln. Die Räume wirken mystisch. Zu Zeiten Saddam Husseins wurden hier unter anderem Attentate geplant und Sprengstoff versteckt. "Was würden die Iraker mit uns machen, wenn sie uns hier sehen?" Deutschland gehört zwar das Grundstück, aber Irak darf es unbefristet nutzen. Wir bewegen uns leise weiter zur Terrasse, damit uns niemand hört. Das ist schwierig, weil überall am Boden Scherben von eingeworfenen Fenstern liegen. Der Garten ist verwahrlost. Lange verweilen wir nicht. Die Angst kriecht unsere Rücken hoch. Obdachlose suchen in solchen verlassenen Gebäuden oft Unterschlupf. Womöglich fühlen sie sich von uns gestört, wenn sie uns entdecken. Doch wir wollen ihnen nichts Böses, sondern nur verstehen, warum so ein schönes Gebäude dem Verfall überlassen wird.

Die Rechtslage bei Urban Exploration und ein paar Regeln

Vor dem Gesetz haben Urban Explorer einen schweren Stand: Zum einen betreten sie in den meisten Fällen Privatgelände, zum anderen können sie auch mit ihren Fotos Rechte verletzten. Freistunde hat sich mit den Rechtsanwälten Johann Kohlschmidt und Sebastian Deubelli unterhalten und abgeklärt, wie strafbar Urban Exploring eigentlich ist.

Darf ich ein verlassenes Gebäude betreten? Da wohnt doch niemand mehr.

Rechtlich besteht kein Unterschied zwischen einem Gebäude, das noch bewohnt oder genutzt wird und einem verlassenen Gebäude. Das Betreten von fremdem Grund und Boden ist im Strafgesetzbuch geregelt und bedeutet in der Regel Hausfriedensbruch. Der kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe belegt werden. Das wichtige hier: Ob ein Hausfriedensbruch besteht oder nicht liegt allein im Ermessen des Besitzers.

Woran erkenne ich, ob ich auf Privatgrund stehe oder nicht?

Will man das erkennen, reicht es dass man sehen kann, dass der Grund vom öffentlichen Raum abgegrenzt ist. Das bedeutet: Auch wenn es kein "Betreten verboten"-Schild gibt oder einen Zaun - solange so etwas wie eine Abgrenzung erkennbar ist, gilt auch eine Ruine als Privatgrund.

Wie sieht es mit Fotos aus?

Fotografiert man ein Gebäude von außen, greift die sogenannte Panoramafreiheit, die auch das Fotografieren von Bauwerken im öffentlichen Raum gestattet. Betritt der Fotograf aber ein Gebäude, oder benutzt er Hilfsmittel wie Leitern oder Drohnen, gilt diese Regel nicht mehr. Der Fotograf unterliegt dem Hausrecht. Gelangen solche Fotos in die Öffentlichkeit, kann der Hausbesitzer auf Unterlassung und Schadensersatz klagen. Für den Fotografen bedeutet das in der Regel eine Geldstrafe, die meist über einigen hundert Euro pro Bild liegt.

Ein paar Regeln

Neben den rechtlichen Problemen ist Urban Exploration auch alles andere als ein ungefährliches Hobby. Bei den meisten Explorern haben sich deshalb Regeln eingebürgert, die auch dem eigenen Schutz dienen. Die wichtigsten sind:

  • Niemals alleine auf Erkundungstour gehen.
  • Sagt jemandem Bescheid, wo ihr hingeht und wann.
  • Immer die Erlaubnis des Inhabers einholen.
  • Festes Schuhwerk und zweckmäßige Kleidung tragen.
  • Die Orte, an die es geht, sind alt und verlassen: Beim Betreten äußerste Vorsicht walten lassen.
  • Die Grundregel der Urban Explorer heißt: Hinterlasse nichts außer deine Fuß- spuren. Das heißt, nichts mitnehmen, nichts verändern und nichts kaputt machen.
  • Vandalismus und Graffiti sind tabu!
  • Kein gewaltsames Eindringen: Wenn ein Gebäude verschlossen ist, ist es verschlossen.
sized
sized

Ein "Lost Place" in Berlin: der Spree-Park.

sized

Ein verlassenes Kinderkrankenhaus.

sized

Ein verlassener Hörsaal.

sized

Eine verlassene Lagerhalle.

sized

Eine verlassene Heilstätte.

sized

Diese verfallene Wassenrutsche steht im Spree-Park in Berlin.