Leitartikel

Schluss mit Zugeständnissen


Schon wenige Tage nach der Entscheidung für den Brexit spüren die Briten den Trennungsschmerz von Europa.

Schon wenige Tage nach der Entscheidung für den Brexit spüren die Briten den Trennungsschmerz von Europa.

Von Jens Knüttel

Je stärker sich der Nebel geistiger Umnachtung lichtet, den die Brexit-Befürworter mit ihren Lügen und der üblen Stimmungsmache auf der Insel heraufbeschworen haben, desto offenkundiger wird: Europa sitzt jetzt am längeren Hebel. Gut so. Die lästige Sonderbehandlung der Briten ist endlich Geschichte.

Eine Mehrheit hat am 23. Juni die Vernunftehe mit der EU einseitig aufgekündigt - das Vereinigte Königreich spürt seither den bitteren Trennungsschmerz in allen Gliedern: Der Kurs des Pfunds ist in den Keller gerauscht, die Wirtschaft gerät erheblich ins Stocken, die Schotten rebellieren gegen die Austrittsentscheidung und Privilegien wie der Briten-Rabatt bei den EU-Beiträgen sind schon passé. Jahrelang ging es für die anderen EU-Staaten darum, London die Gemeinschaft weiterhin schmackhaft zu machen - ihr Drohpotenzial ist den Briten nach dem ablehnenden Referendum abhandengekommen.

Entschlossenheit und Einigkeit im Umgang mit London: In dieser schweren politischen Krise beweisen die verbliebenen EU-Staaten endlich Zugkraft. Sie können es sich einfach nicht erlauben, verunsichert zu wirken und den Rattenfängern in Europa weiteren Zulauf zu ermöglichen. Die 27 Staats- und Regierungschefs wissen, dass jetzt Vernunft, Pragmatismus und vor allem Geschlossenheit gefragt sind. Nur so lassen sich weitere Referenden beispielsweise in Frankreich und den Niederlanden verhindern, wo mit Marine Le Pen und Geert Wilders Rechtspopulisten stärker werden und auf ihre Chance lauern.

Um ihren schärfsten Kritikern gerade in dieser angespannten Situation nicht mehr Argumente zu liefern und den Groll auf die EU-Institutionen nicht noch weiter zu erhöhen, muss Brüssel endlich dazu übergehen, die Verträge und Versprechen strikt einzuhalten. Verstoßen etwa Defizitsünder wie Spanien und Portugal gegen die Richtlinien, gilt es, dies konsequent zu ahnden.

Keinen Gefallen hat sich die EU-Kommission auch mit dem Vorstoß getan, die nationalen Parlamente nicht über das Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) abstimmen zu lassen. Behördenchef Jean-Claude Juncker handelt abgehoben und erweckt den Eindruck, nicht ausreichend auf die Ängste der Bürger einzugehen. So jedenfalls begeistert er niemanden für Europa. Die Ceta-Entscheidung läuft genau dem zuwider, worauf Brüssel nach dem Brexit eigentlich hinwirken sollte: auf mehr Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten zu setzen. Denn sonst hätten sie den Schuss nicht gehört, den die Briten mit ihrer Entscheidung für den Ausstieg unüberhörbar abgegeben haben.

Deren scheidender Premierminister David Cameron, der das verhängnisvolle Referendum erst möglich machte, wird die Scharte dabei genauso wenig auswetzen wie die Galionsfigur der Brexit-Befürworter, Boris Johnson. Weder der bisherige Chef der Konservativen noch der charismatische Demagoge haben eine Lösung parat, wie sich der EU-Ausstieg gestalten lässt. Katzenjammer, Schockstarre und Ratlosigkeit: So verheerend ist derzeit die politische Situation in London.

Selbst Johnson hat das Votum für einen EU-Austritt wohl kalt erwischt; der frühere Londoner Bürgermeister kneift jetzt, wenn es um den Vorsitz der Tories geht. Erbärmlich. Genauso chaotisch geht es aber auch bei der Labour Party zu: Deren Vorsitzender Jeremy Corbyn hat dabei versagt, ausreichend Stimmen für einen Verbleib in der EU zusammenzutrommeln. Obwohl die Fraktionsmitglieder ihm überwiegend das Misstrauen ausgesprochen haben, klammert sich der Alt-Linke an sein Amt. Die britische Politikelite steht in der größten Krise der Europäischen Union mit leeren Händen da. Führungslos schlingert London durch die nächsten Monate.

Auf der Insel werden nun abenteuerliche Szenarien durchgespielt, wie der Ausstieg aus der Austrittsentscheidung der Bürger noch gelingen kann. Denn es ist nicht ausgemacht, dass das Trennungsschreiben, das Artikel 50 des EU-Vertrages erlaubt, tatsächlich in Brüssel eingehen wird. Darauf deutet schon hin, dass erstaunlicherweise selbst bei den regierenden Konservativen keiner eiligen Schrittes mit dem Rückenwind durch den Freibrief der Bürger den Austritt vollziehen will - gewaltig wären ja auch die negativen Auswirkungen für die Insel. Selbst im Unterhaus, dem die Brexit-Befürworter durch einen EU-Austritt vermeintlich mehr Souveränitätsrechte beschaffen wollten, herrscht diese Ansicht weiterhin mehrheitlich vor.

Es besteht deshalb für die Gegner des EU-Austritts die Hoffnung auf Auswege, die allerdings nur äußerst schwierig zu vollziehen wären: Ein Parlamentsentscheid des britischen Unterhauses könnte das Votum der Bürger kippen, denn rechtlich gesehen ist es lediglich eine "Empfehlung". Nachdem Premierminister Cameron versichert hat, sich an das Ergebnis zu halten, würde eine gegenteilige Entscheidung der Abgeordneten jedoch einen nie zuvor da gewesenen Aufschrei auf der Insel hervorrufen. In diesem Fall würde die repräsentative Demokratie schweren Schaden nehmen - allerdings auch gleichzeitig irrationale Politik verhüten. Wesentlich eleganter für viele Beteiligte wären da schon Neuwahlen, im Zuge derer sich die EU-Befürworter in den jeweiligen Parteien an die Spitze kämpfen. Denn das ließe sich als Auftrag an das britische Parlament verstehen, den Trennungsbescheid von Brüssel doch noch abzuwenden.

Von solchen Gedankenspielen allerdings darf sich die EU nicht vereinnahmen lassen. Sie muss sich auf zähe und langwierige Verhandlungen über die künftige Kooperation mit dem Vereinigten Königreich vorbereiten. Dabei gilt es, emotionale Ausbrüche zu vermeiden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte treffend fest: "Groll, Ärger, das ist keine Kategorie des politischen Handelns." Das muss die Richtschnur für einen fairen Umgang mit Großbritannien sein, gleichzeitig sollte der künftige Premierminister deutlich zu spüren bekommen: Nach der Demütigung durch den Brexit ist die EU zu keinen Zugeständnissen bereit, Spielraum für Großzügigkeit wie bisher - für ein Land, das die EU schon immer am wenigsten wollte - darf und wird es nicht mehr geben. Das haben die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel klargemacht. Recht haben sie; deshalb gilt: Wer auch nach einem Austritt illustren Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit seinen mehr als 500 Millionen Menschen haben will, muss dafür das Geld für eine kostspielige Eintrittskarte berappen und zwingend auch seine Regeln akzeptieren.

Das heißt: Auch das Vereinigte Königreich hat dann nach wie vor die eigentlich ungewollte Personenfreizügigkeit zu gewährleisten - und nicht nur die Freiheit von Kapital, Waren und Dienstleistungen. Für London bliebe also ein gewaltiges politisches Minusgeschäft, denn es müsste weiter die Auflagen aus Brüssel schlucken, ohne in den Reihen der Gemeinschaft noch mitbestimmen zu können - von wegen mehr Eigenständigkeit, wie die Brexit-Befürworter noch vor der Abstimmung immer versprachen.