Kulturwissenschaftler zu Black Lives Matter

Gunther Hirschfelder: „Wir kanalisieren unsere Betroffenheit“


Was verbindet die Black-Lives-Matter-Protestler auf dieser und der anderen Seite des Atlantiks? Viel davon hat mit der medial vermittelten Realität zu tun, sagt Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler an der Uni Regensburg.

Was verbindet die Black-Lives-Matter-Protestler auf dieser und der anderen Seite des Atlantiks? Viel davon hat mit der medial vermittelten Realität zu tun, sagt Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler an der Uni Regensburg.

Der gewaltsame Tod eines US-Amerikaners bringt in München und Berlin Tausende auf die Straßen. Sie bekunden Solidarität mit dem toten George Floyd und der schwarzen Minderheit in den USA.

Warum viele Menschen hierzulande die Ereignisse jenseits des Atlantiks als sehr nah und unmittelbar empfinden und wie von den Protesten auch die deutsche Gesellschaft profitieren könnte, erklärt Prof. Dr. Gunther Hirschfelder vom Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Uni Regensburg.

Herr Hirschfelder, Black Lives Matter ist ein US-amerikanisches Phänomen, möchte man meinen. Wieso findet die Bewegung gerade in Deutschland so viele Anhänger?

Gunther Hirschfelder: Solche Aufregungen über ein fremdes Land lenken von eigenen Missständen ab. Es ist leichter, sich über andere aufzuregen, als über sich selbst. Es ist auch journalistisch ein einfaches Feld. Man kann nichts verkehrt machen. Man ist immer auf der richtigen Seite, wenn man sagt: Die Betroffenen sind im Recht und die Polizei ist schlimm. Das ist eine Skandalisierung ohne Risiko. Der zweite Punkt ist, dass die USA uns als Gesellschaft durch unseren Medienkonsum, durch amerikanische Serien etwa, besonders nahe sind. Wir glauben, den amerikanischen Alltag zu kennen. Ein weiterer Punkt ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus, einem Unrechtsregime, in dem die Polizei übergriffig und gewalttätig war.

"Die Gewaltproblematik ist vielerorts apokalyptisch"

Es hängt also nicht unmittelbar mit dem selbst empfundenen Unrecht, etwa im eigenen Lebensumfeld, zusammen?

Hirschfelder: Nicht zuletzt ist es auch eine Bewältigungsstrategie. Wir sehen viel Unglück und Gewalt auf der Welt. Das können wir meist nicht einordnen. Wir wissen, dass es extreme Gewalt gibt in vielen Teilen der arabischen Welt, im vorderen Orient, aber auch in Asien, in Libyen und in Subsahara-Afrika. Das kanalisiert sich bei den Protesten und Unruhen in den USA.

Also ist durch die Protagonisten die Gewalt konkreter als die "namenlosen" Ereignisse in anderen Teilen der Welt?

Hirschfelder: Ich war im vergangenen Jahr in Kenia und Äthiopien und habe dort die UN-Vertreter besucht. Die Gewaltproblematik, die wir in Zentralafrika haben, ist apokalyptisch. Jeden Tag Tausende von Morden. Das bleibt hier weitgehend unbeachtet. Wir kümmern uns auch kaum um das Flüchtlingselend in den nordkenianischen Flüchtlingslagern, wo teilweise zwei Generationen von Menschen sitzen. Gleiches gilt für die Folgen der Corona-Maßnahmen, etwa in Indien, wo jetzt schon viele Menschen verhungert sind. Wir kanalisieren unsere Betroffenheit, so würde ich das nennen.

Im zweiten Teil des Interviews lesen Sie unter anderem, inwiefern sich die Verhältnisse in Europa und den USA einander annähern könnten.

Klassenkampf USA: "Ein Absturz in die Drogen-Epidemie"

Sie sprachen von der vermeintlichen Verbundenheit der USA mit Deutschland. Haben wir uns über die vergangenen Jahre eher voneinander entfernt oder einander angenähert?

Hirschfelder: Die amerikanische und die mitteleuropäischen Gesellschaften waren sich Mitte des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Werte und Lebensstil relativ ähnlich. Wir haben uns in der Zwischenzeit voneinander entfernt, weil wir Mitteleuropäer uns nach wie vor als wissenschafts- und bildungsaffin bezeichnen. Wir hängen dem Leitbild einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft eher an. Das europäische Modell sagt immer noch: "Wohlstand für alle, Gerechtigkeit für alle, das hilft den Armen, den Reichen und auch der Demokratie." Die USA haben sich davon durch die weitgehende Neoliberalisierung der Wirtschaft entfernt. Die USA sind zu einem Land geworden, wo nicht nur die Unterschiede zwischen Schwarz und Weiß groß sind, sondern wo wir auch eine zunehmende Diskrepanz haben zwischen einem abgehängten ländlichen Raum und einem hochmodernen urbanen Raum an der Ost- und Westküste. Ich habe gerade das Enthüllungsbuch "Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis" von J. D. Vance gelesen. In dem geht es um den Absturz der amerikanischen Mittelschicht im Rust Belt in Richtung Drogen-Epidemie. Es ist apokalyptisch, wie aus diesen wohlhabenden Regionen absolute Brennpunkte geworden sind.

Gibt es diese Tendenzen in Europa, dass es sich wieder annähern könnte? Also, dass auch der europäische Mittelstand verelendet?

Hirschfelder: Die Gefahr ist auf jeden Fall sehr groß. Die Folgen der Corona-Maßnahmen, die sich jetzt etwa in Spanien zeigen, gehen in diese Richtung. Die ökonomische und soziale Schere kann sich weiter öffnen.

"Greta Thunberg taugt als Sprachrohr nicht so recht"

Können der Protest und die Kundgebungen für Black Lives Matter bei uns in Deutschland Veränderungen bringen?

Hirschfelder: Ich würde die Frage unbedingt mit "Ja" beantworten. Weil es gar nicht unbedingt um "schwarze Leben" geht bei diesen Aufregungen. Ein großer Teil dieser Generation, die die Proteste trägt, ist politisch aktiv. Wir könnten die letzten 1.000 Jahre durchgehen und würden sehen, dass massive gesellschaftliche Veränderungen immer von jungen Leuten vorangetrieben werden. Das war in der Reformation genauso, wie auch in der französischen Revolution. Wir haben heute eine junge Generation, die sprachlos und frustriert ist. Das Sprachrohr Greta Thunberg taugt auch nicht so recht, weil sie im Prinzip keine Struktur aufzeigt, sondern nur einen Imperativ formuliert. Solche Protestbewegungen dienen gewissermaßen dazu, sich halb-spielerisch wieder politisch einzuüben, sich zu artikulieren und zu vergemeinschaften. Historisch würde ich es als Beginn einer Generation sehen, die politisch und gesellschaftlich wieder am Diskurs teilnimmt. Das kann man, wenn man Demokrat ist, im Prinzip nur positiv einstufen.