Kritik an Ende des Ausnahmezustands

Corona-Inzidenz erstmals wieder deutlich über 100


Eine junge Frau lässt sich von einer medizinischen Mitarbeiterin in einem Zelt der Gemeinde gegen das Coronavirus impfen. (Archivbild).

Eine junge Frau lässt sich von einer medizinischen Mitarbeiterin in einem Zelt der Gemeinde gegen das Coronavirus impfen. (Archivbild).

Von mit Material der dpa

Die Inzidenz in Deutschland steigt weiter und liegt nun bei 106,3. Gesundheitsminister Spahn will trotzdem den nationalen Ausnahmezustand beenden - und stößt damit auf Kritik.

Die Corona-Inzidenz in Deutschland ist erstmals seit Mai wieder klar dreistellig. Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche am Sonntag mit 106,3 an. Zum Vergleich: Am Vortag hatte der Wert bei exakt 100 gelegen, vor einer Woche bei 72,7. Die Gesundheitsämter meldeten dem RKI binnen eines Tages 13.732 Corona-Neuinfektionen - vor einer Woche waren es noch 8682 Ansteckungen gewesen.

Deutschlandweit wurden nach den neuen Angaben binnen 24 Stunden 23 Todesfälle verzeichnet. Vor einer Woche waren es 17 Todesfälle gewesen. Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie 4.466.157 nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2. Die tatsächliche Gesamtzahl dürfte deutlich höher liegen, da viele Infektionen nicht erkannt werden.

Die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-Patienten je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen - den für eine mögliche Verschärfung der Corona-Beschränkungen wichtigsten Parameter - gab das RKI am Freitag mit 2,68 an (Donnerstag 2,45). Bei dem Indikator muss berücksichtigt werden, dass Krankenhausaufnahmen teils mit Verzug gemeldet werden. Ein bundesweiter Schwellenwert, ab wann die Lage kritisch zu sehen ist, ist für die Hospitalisierungs-Inzidenz unter anderem wegen großer regionaler Unterschiede nicht vorgesehen. Der bisherige Höchstwert lag um die Weihnachtszeit bei rund 15,5.

Die Zahl der Genesenen gab das RKI mit 4.206.400 an. Die Zahl der Menschen, die an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Infektion mit Sars-CoV-2 gestorben sind, stieg auf 95.100.

Kritik an Spahns Vorstoß

Der Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für eine Beendigung der durch den Bundestag festgestellten Corona-Notlage sorgte auch angesichts der steigenden Zahlen weiter für Diskussionen. Kritiker befürchten einen "Flickenteppich" an Maßnahmen und Regelungen.

Spahn sagte im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks, es gehe darum, nach 19 Monaten einen Ausnahmezustand zu beenden. Die Befugnisse der Bundesregierung sollten in einen Normalzustand zurückgeführt werden. Er betonte, dies bedeute keinen "Freedom Day" (Freiheitstag) oder das Ende aller Maßnahmen. Diese könnten auch ohne Ausnahmezustand geregelt werden.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte der "Passauer Neuen Presse", Spahns Ankündigung in einer Phase, in der es steigende Infektionszahlen, Impfdurchbrüche, stagnierende Impfquoten und andere Probleme gebe, habe ihn überrascht. Sollte die Feststellung der epidemischen Notlage nach dem 25. November tatsächlich auslaufen, fordere er eine Ersatzregelung. Auch die Ministerpräsidenten der länder hatten am Freitag erklärt, es müsse weiter eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für die Schutzmaßnahmen geben.

Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans verteidigte jedoch Spahns Vorstoß. "Die Pandemie ist zwar nicht vorbei, aber sie hat durch die Impfungen ihren Schrecken verloren. Dem müssen wir Rechnung tragen", sagte der CDU-Politiker der "Bild am Sonntag". Er betonte zugleich: "Die Bundesländer müssen auch nach dem Ende der epidemischen Lage die Möglichkeit haben, Maßnahmen zu beschließen. Aber man darf nicht alle Länder über einen Kamm scheren. Bundesländer mit einer hohen Impfquote müssen sich ihre Freiheiten zurückerobern können."

Städtetag warnt vor "Flickenteppich"

Städtetagspräsident Burkhard Jung warnte in den Zeitungen der Funke Mediengruppe vor einem "Flickenteppich". Ein gemeinsamer Rahmen sei weiterhin notwendig. "Die Länder müssen über den Winter Regeln wie 3G oder sogar 2G und das Tragen von Masken in Innenräumen weiter vorgeben können", forderte der Leipziger Oberbürgermeister. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte den Funke-Zeitungen: "In dieser Übergangszeit nach der Wahl werden wir im Parlament nach Mehrheiten suchen, die größer sind als die aktuelle Regierung."

Die epidemische Lage ist Grundlage für Verordnungen und zentrale Corona-Maßnahmen in Deutschland. Sie wurde erstmalig vom Bundestag im März 2020 festgestellt und später vom Parlament verlängert.

Mit den steigenden Corona-Zahlen keimen auch Sorgen um eine Überlastung des Gesundheitssystems wieder auf. "Die Inzidenzen sind weiterhin extrem eng gekoppelt an die Aufnahmen auf die Intensivstationen", sagte Christian Karagiannidis, leitender Oberarzt an der Lungenklinik Köln-Merheim und wissenschaftlicher Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dem Deutschlandradio.

Zwar seien die Intensivstationen derzeit mit Covid- und anderen Patientinnen und Patienten etwa gleich stark belegt wie vor einem Jahr, allerdings gebe es inzwischen weniger freie Kapazitäten, weil die Zahl der Betten mangels Pflegepersonal verringert werden musste, betonte Karagiannidis. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen sagte daher der dpa, die Maßnahmen müssten nun auch "auf Unterstützung und möglichst Aufbau des Personalstamms insbesondere im Intensivbereich" zielen.

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