Waffensendungen, Aufrüstung der Bundeswehr

Ende der Zurückhaltung: Deutschland rüstet auf


Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält zu Beginn der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine eine Regierungserklärung.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält zu Beginn der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine eine Regierungserklärung.

Von mit Material der dpa

Stopp von Nord Stream 2, Wirtschaftssanktionen ohne Rücksicht auf Verluste, Lieferung von Panzerfäusten und Raketen, Milliarden für die Truppe: Der Kanzler hat in der Ukraine-Krise lange gezögert, jetzt vollzieht er eine historische Wende in der deutschen Sicherheitspolitik.

Es ist die erste Bundestagssitzung in der neuen Zeit nach dem Frieden in Europa. Vor dem Reichstagsgebäude wehen drei Flaggen: Die europäische, die deutsche und eingerahmt davon die gelb-blaue der Ukraine, des von den Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin seit mehr als drei Tagen attackierten Landes.

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Am 82. Tag seiner Amtszeit tritt Kanzler Olaf Scholz um 11.07 Uhr ans Rednerpult, um eine halbe Stunde lang über einen Krieg zu reden, an dem sich bald auch Deutschland beteiligt. Nicht mit Soldaten, aber mit Waffen, deren Lieferung die Bundesregierung wenige Stunden zuvor genehmigt hat. Aber das ist längst nicht alles.

Die Rede des Kanzlers im Bundestag markiert eine historische Kehrtwende in der deutschen Sicherheitspolitik. Die deutsche Zurückhaltung hat ein Ende - vor allem die militärische. Das Dogma, dass deutsche Außenpolitik sich vor allem um die Diplomatie kümmert und andere mit einer weniger belasteten Geschichte für das Militärische zuständig sind, gibt es nicht mehr.

"Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents", sagt Scholz über das Datum des Kriegsbeginns. "Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben."

Die Antwort ist eine Kehrtwende in mehrfacher Hinsicht:

Waffenlieferung in einen laufenden Krieg

Deutschland liefert tödliche Waffen in einen laufenden Krieg - 1.000 Panzerfäuste und 500 Luftabwehrwaffen vom Typ "Stinger". Außerdem wird den Nato-Partnern Niederlande und Finnland die Lieferung von Waffen erlaubt, die ursprünglich aus Deutschland stammen. Die Bundesregierung hatte die Forderung der Ukraine nach Waffen monatelang abgeblockt unter Verweis auf die strengen deutschen Rüstungsexportrichtlinien, die Waffenlieferungen in Krisengebiete untersagen.

Es hat Ausnahmen gegeben: So wurden den kurdischen Peschmerga-Kämpfern im Irak Waffen geliefert, um einen Völkermord der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) an den Jesiden zu verhindern. Jetzt werden die gelieferten Waffen aber nicht gegen Terroristen, sondern gegen die Armee einer Atommacht mitten in Europa gerichtet - eine neue Dimension.

Aufrüstung der Bundeswehr in historischem Ausmaß

Für die Bundeswehr legt die Regierung ein Aufrüstungsprogramm von historischem Ausmaß auf: Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll für Investitionen in die Truppe und ihre Ausrüstung gebildet werden. Der Verteidigungsetat soll von nun an jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Gegen dieses Zwei-Prozent-Ziel der Nato haben sich SPD und Grüne lange Zeit gesträubt. Jetzt wird es im Handstreich beschlossen.

Stopp von Nord Stream 2 und Mutter aller Sanktionen

Mit dem Stopp von Nord Stream 2 hatte die Bundesregierung schon zuvor eine erste Wende in der Energie- und in der Russlandpolitik vollzogen. Jahrelang hatte sie die 1.230 Doppelröhren zwischen Russland und Deutschland unter der Ostsee gegen Angriffe der USA und osteuropäischer Bündnispartner in Schutz genommen. Jetzt scheint es unwahrscheinlich, dass die Pipeline jemals in Betrieb geht.

Auch bei den Sanktionen gegen Russland stand Deutschland erst auf der Bremse, um jetzt richtig Gas zu geben. Der am Samstagabend zwischen mehreren westlichen Staaten besiegelte Ausschluss einiger russischer Banken aus dem Kommunikationssystem Swift gilt als die schärfste Sanktion, die bisher gezogen wurde.

Schulterschluss zwischen Regierung und Opposition

Scholz hat es geschafft, mit einem kraftvollen Auftritt im Bundestag aus der Defensive zu kommen. Das erkennt selbst Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) an, der nichts auszusetzen hat an den Ankündigungen des Regierungschefs. "Eine gute Regierungserklärung", sagt er. Ein solches Lob der Opposition für die Regierung hat großen Seltenheitswert. Krisen, insbesondere Kriege können in einer Demokratie politische Lager zusammenschweißen.

Für Grüne und SPD ist das Ja zu den Waffenlieferungen und der Aufrüstung der Bundeswehr keins aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit. Aus einer "tragischen Notwendigkeit", wie SPD-Chefin Saskia Esken es sagt. Man schulde es der Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und den europäischen Werten von Demokratie und Freiheit.

Noch deutlicher drückt es Vizekanzler Robert Habeck aus: "Wer einer militärischen Vergewaltigung zuschaut, der macht sich schuldig daran", sagt er. Der Grünen-Politiker hatte sich schon bei einem Ukraine-Besuch im Wahlkampf für Waffenlieferungen ausgesprochen und musste dafür viel Prügel einstecken. Er verbirgt aber auch nicht, dass bei ihm Zweifel an der Entscheidung bleiben. "Sie ist richtig, aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner. Denn wer weiß, wie sich der Krieg entwickelt."

Stehender Applaus für ukrainischen Botschafter

All das hört sich auf der Besuchertribüne der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk an. Drei Monate lang - seit Beginn des russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze - ist er unermüdlich durch die deutschen Talkshows gezogen und hat in ungewöhnlich scharfer Tonlage von der Bundesregierung Waffen für die Verteidigung seines Landes eingefordert. "Ich kann nicht verstehen: Wie kann man so kaltherzig und stur bleiben", hatte er sich noch am Tag des Kriegsbeginns über Deutschland beklagt.

Vielen in der Bundesregierung galt er bis zu diesem Wochenende als Nervensäge, die sich nicht an diplomatische Gepflogenheiten hält. Am Sonntag wird er im Bundestag minutenlang mit Applaus begrüßt. Für ihn ist es eine späte Genugtuung. "Ich habe meinen deutschen Freunden und der Bundesregierung immer gesagt, dass sie die schrecklichen Bilder vom Krieg in der Ukraine nicht lange ertragen werden, ohne zu reagieren und umzusteuern", sagt er.

100.000 Demonstranten nicht weit vom Reichstagsgebäude

Den größten Applaus der Bundestagsabgeordneten erhalten an diesem besonderen Tag aber diejenigen, die in ganz Deutschland und weltweit gegen den Krieg demonstrieren. "Ich danke allen, die in diesen Tagen Zeichen setzen gegen Putins Krieg", sagt Scholz unter lang anhaltendem Beifall des Parlaments. Nicht weit vom Reichstagsgebäude, zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule, haben sich mehr als 100 000 Menschen versammelt - die größte Friedensdemonstration, die Berlin seit sehr langer Zeit gesehen hat.