Zeitzeugen des Nationalsozialismus

Sie sterben langsam weg


Eine Quelle enormer Erfahrung: Die Generation der Großeltern. (Symbolbild)

Eine Quelle enormer Erfahrung: Die Generation der Großeltern. (Symbolbild)

Am liebsten isst Hans Mehlspeisen. Wenn er seinen Teller leer hat und der Tisch abgeräumt ist, erzählt er Geschichten von früher. In den letzten Wochen beschäftigt ihn seltsamerweise das Dritte Reich.

"Wegen einem Verrückten haben so viele Menschen leiden müssen", sagt er und schüttelt den Kopf. Er bekommt glasige Augen. Was diese Generation für Leid erfahren musste! Doch nun schwindet sie langsam dahin.

"Einmal bin ich mit zwei Freunden am Haus vom Lehrer vorbeigegangen", setzt Hans zu einer anderen Geschichte an. "Seine Frau ist in der Tür gestanden. Da hat sie "Heil Hitler!" gesagt. Wir haben mit einem "Grüß Gott!" geantwortet." Er macht eine lange Pause. "Dann haben wir alle eine Watschn gekriegt."

Mit gesenktem Blick schüttelt er wieder den Kopf.

Dann erzählt er eine Geschichte eines anderen Mannes aus seinem Heimatort. "Das war auch so ein kleiner Hitler. Zu seinem eigenen Bruder hat er immer gesagt: "Dich bring ich auch noch nach Dachau!"" Hans macht wieder eine längere Pause. Ich lasse die Stille zu. "Zu seinem eigenen Bruder", betont er noch einmal.

"Wennst das Geburtsdatum eines dieser Kriegstreiber nicht gewusst hast, dann hast vom Lehrer einen Fünfer oder eine Fotzn gekriegt." Plötzlich beginnt er zu lachen. "Einmal hat mir der Lehrer eine obaghaut. Derweil hat's mich genau in dem Moment gerissen." Er bricht in Lachen aus. "Da hat er geschaut, wie er meinen Rotz an der Hand kleben hatte." Hans lacht, bis ihm die Tränen in die Augen steigen. "Der hat mir keine mehr geschmiert."

Mit über 90 Lebensjahren hat er die damaligen Erlebnisse immer noch nicht verarbeitet. Wird er vielleicht nie. Aber wie wird es sich auswirken, wenn niemand mehr am Leben ist, der dabei war? Der davon berichten kann?

Ich erinnere mich an Sokrates' bekannten Ausspruch: "Die Geschichte endet nicht mit uns." Ich verabschiede mich, um seine Geschichten aufzuschreiben. ICH will sie nicht vergessen.