Interviewserie "Über den Rand"

Geflüchtet aus Syrien, richtig angekommen in Ostbayern


Der syrische Geflüchtete Nour Haji (links) kam 2016 mit seinem jüngeren Bruder Khaldun (rechts) nach Niederbayern. Hier sind die beiden in einem Passauer Lokal.

Der syrische Geflüchtete Nour Haji (links) kam 2016 mit seinem jüngeren Bruder Khaldun (rechts) nach Niederbayern. Hier sind die beiden in einem Passauer Lokal.

Von Redaktion idowa

"Wenn wir die jetzt alle aufnehmen, dann kommen ja nur noch mehr": Sätze wie dieser finden sich momentan hundertfach in den Kommentarspalten in sozialen Medien. Der Brand des überfüllten Flüchtlingscamps Moria auf der griechischen Insel Lesbos hat die Diskussion rund um Flucht und Migration neu entflammt, die 2015 schon einmal ganz ähnlich geführt wurde. Der gebürtige Syrer Nour Haji hat die Situation damals selbst erlebt, mittlerweile ist er glücklich in Niederbayern angekommen. Ein Interview über eine Erfolgsgeschichte.

Nour Haji hat schon viel erlebt für einen 33-Jährigen. Geboren wurde er 1987 im nordsyrischen Manbij, studierte später etwa sieben Jahre lang Englische Literatur in Aleppo und arbeitete anschließend in einem Hotel. Dann kam der Krieg. Nour hätte zur Armee gemusst, zog dem Kriegsdienst aber eine Flucht in die Türkei vor, wie er sagt. Von dort wollten er und sein jüngerer Bruder Khaldun im Jahr 2014 weiter nach Griechenland, nach Europa.

Doch ein erster Versuch scheiterte, die beiden wurden verhaftet und landeten in der kurdischen Hauptstadt Erbil, wo sie sich etwa zwei Jahre durchschlugen und dann eine zweite Flucht wagten. Diesmal schafften es die beiden, größtenteils zu Fuß, bis zur griechisch-mazedonischen Grenze. Dort versuchten sie mehrmals, irgendwie weiter nach Westeuropa zu kommen, wurden aber immer wieder verhaftet oder blieben irgendwo stecken.

Nour Haji (rechts vorne) mit seinem Bruder während der Flucht in Mazedonien. "Da hatten wir kein Essen, das da in der Flasche war unser ganzes Wasser", sagt er.

Nour Haji (rechts vorne) mit seinem Bruder während der Flucht in Mazedonien. "Da hatten wir kein Essen, das da in der Flasche war unser ganzes Wasser", sagt er.

Herr Haji, warum haben Sie damals nicht aufgegeben? Warum haben Sie es immer weiter versucht?

Nour Haji: Es gab nicht viele Möglichkeiten für uns. Entweder zurück nach Syrien oder in die Türkei - oder wir müssen weitermachen. Und weiterzumachen war einfach die bessere Alternative.

Letztlich haben Sie es ja dann irgendwie bis hierher geschafft. Warum wollten Sie gerade nach Deutschland und nicht woanders hin?

Haji: Eigentlich wollte ich zuerst gar nicht nach Deutschland. Mein Ziel war Schweden, weil ich dort einen Freund habe. Als das dann irgendwann nicht mehr möglich schien, haben Khaldun und ich entschieden, in Deutschland zu bleiben. Dann wollten wir aber eigentlich zuerst nach Hamburg, weil das eine große Stadt ist und ich gehört hatte, dass dort die Asylverfahren schneller gehen. Ich weiß aber nicht, ob das wirklich so war, weil ich dann in Passau verhaftet wurde - und seitdem sind wir hier im Landkreis, in Pocking.

"Wir hatten gehört, dass die Menschen hier in Freiheit leben"

Was wussten Sie denn vor Ihrer Flucht über Deutschland? Und war es dann so, wie Sie dachten?

Haji: Wir hatten gehört, dass das Leben in Deutschland, in Europa allgemein, sehr gut organisiert ist und dass die Menschen hier in Freiheit leben. Das wussten wir aber nur aus dem Fernsehen, Kontakt mit Menschen hier hatten wir keinen. Zum größten Teil war es dann auch so, wie wir es uns vorgestellt hatten - aber wir hatten nicht an die Sprache gedacht, das war schon schwieriger als gedacht.

Haben Sie sich auch über irgendwas geärgert, als Sie dann hier waren?

Haji: Am Anfang ein bisschen die ganze Bürokratie, weil wir so viele Formulare ausfüllen mussten, ohne Deutsch zu können. Wir haben damals viel Hilfe gebraucht, aber jetzt ist eigentlich alles in Ordnung.

Was hat Ihnen denn am meisten geholfen, in Bayern wirklich "anzukommen"?

Haji: In Pocking gab es einen Helferkreis, der den Flüchtlingen helfen wollte. Diese Menschen haben uns viel unterstützt. Es gab auch eine Familie, die unsere Formulare ausgefüllt hat und Wohnungen für mich und meinen Bruder gefunden hat.

Stolzer Neu-Bayer: Nour Haji im Sommer 2020 bei einem Ausflug zum Chiemsee.

Stolzer Neu-Bayer: Nour Haji im Sommer 2020 bei einem Ausflug zum Chiemsee.

Wie geht es Ihnen denn jetzt in Pocking? Sind Sie zufrieden mit Ihrer Situation?

Haji: Ich bin auf jeden Fall zufrieden. Vor drei Jahren habe ich meinen Job beim "Haslinger Hof" in Kirchham bekommen. Dort arbeite ich auch jetzt noch im Service, aber gerade bin ich wegen Corona leider in Kurzarbeit. Mein Studium mache ich mittlerweile auch weiter, am "European Campus Rottal-Inn" in Pfarrkirchen. Mein Bruder hat jetzt seine Lehre als Koch in einem Hotel in Bad Füssing fertig gemacht und ist dort auch immer noch.

"Ich habe Schwierigkeiten mit dem bayerischen Dialekt"

Was machen Sie, wenn Sie mal Freizeit haben?

Haji: Ich hatte bisher eigentlich keine Freizeit, weil ich unter der Woche beim Studieren war und danach gearbeitet habe. Ich habe nämlich leider kein BaFög und keinen Studienkredit gekriegt. Wenn ich zu Hause Zeit habe, muss ich normalerweise lernen. Jetzt hatte ich aber grade drei Wochen frei, weil mein Praktikum in Deggendorf zu Ende war, da schaue ich dann auch mal Netflix oder lese ein Buch.

Fühlen Sie sich mittlerweile zu Hause in Deutschland? Vermissen Sie Syrien?

Haji: Zum größten Teil fühle ich mich zu Hause, ja. Ich habe nur immer noch Schwierigkeiten mit der Sprache, und ganz besonders mit dem bayerischen Dialekt. Syrien vermisse ich mittlerweile nicht mehr, ich habe kein Heimweh. Meine Familie ist ja auch schon zwei Monate nach Khaldun und mir nach Deutschland gekommen. Sie wohnen jetzt in Bremerhaven, mein anderer Bruder ist in Bremen. Gerade sind sie tatsächlich alle eine Woche auf Besuch hier bei mir.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, was Nour Haji empfindet, wenn er Bilder vom abgebrannten Flüchtlingscamp Moria sieht.

"Ich kenne das Gefühl, bei uns war es genauso"

Nach dem Brand des überfüllten Lagers Moria auf Lesbos stehen noch immer Tausende vor dem Nichts. Nour Haji kann zum Teil verstehen, warum jemand einen solchen Ort anzünden würde. (Symbolbild)

Nach dem Brand des überfüllten Lagers Moria auf Lesbos stehen noch immer Tausende vor dem Nichts. Nour Haji kann zum Teil verstehen, warum jemand einen solchen Ort anzünden würde. (Symbolbild)

Werden Sie manchmal von Leuten blöd angemacht oder beleidigt wegen Ihrer syrischen Herkunft?

Haji: Das passiert wirklich nur sehr selten. Einmal hat mich ein Gast im Haslinger Hof gefragt, wo ich herkomme. Da habe ich gesagt, dass ich aus Syrien bin, und er hat mich gefragt, warum ich nicht dorthin zurückgehe. Seine Frau hat damals zu ihm gesagt 'Du bist doch auch aus Österreich, was machst du denn hier in Deutschland?' Ich habe dann nicht weiter diskutiert. Auf sowas trifft man manchmal, aber ich finde, das kann man auch gut ignorieren.

"Irgendwie ist es verständlich"

Kürzlich erst ist ja das große Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos abgebrannt und tausende Menschen sind obdachlos. Was denken Sie, wenn Sie diese Bilder sehen?

Haji: Ich fühle da wirklich mit. Wir hatten fast die gleiche Situation, als wir damals unterwegs waren. Das ist wirklich ganz, ganz schlimm. Es ist eine Katastrophe, wenn man kein Dach über dem Kopf hat, wenn man auf der Straße schlafen muss, wenn man kein Essen oder Wasser findet. Ich kenne das Gefühl, bei uns war es genauso. Es ist auch grundsätzlich echt schlimm, wenn ein Lager für 2.500 Menschen gedacht ist und dann 13.000 dort sind.

Es wird ja vermutet, dass das Lager wegen dieser Zustände absichtlich angezündet wurde. Können Sie das verstehen?

Haji: Wäre ich dort gewesen, hätte ich das sicher nicht gemacht. Ich würde jetzt nicht sagen 'Natürlich verstehe ich das!', aber irgendwie ist es doch verständlich: Wenn man zwei oder drei Jahre dort ist, immer am gleichen Platz, ohne Zukunft, und man weiß nie was man morgen machen soll, dann ist das schon schrecklich. Und manche Leute tun sowas dann eben.

"Ich glaube schon, dass andere Länder mithelfen könnten"

Jetzt wird in der Politik ja wieder die Aufnahme der Moria-Flüchtlinge diskutiert und ein Argument lautet, dass man jetzt nicht alle aufnehmen könne, weil sonst ja direkt wieder neue Flüchtlinge kämen. Außerdem wird befürchtet, dass in diesem Fall mehr Flüchtlinge ihre Lager anzünden könnten, um auch aufgenommen zu werden. Wie sehen Sie diese Diskussion?

Haji: Ich glaube, eine Lösung muss von allen Ländern kommen - nicht nur von Deutschland oder Frankreich, die schon viele Flüchtlinge aufgenommen haben. Es gibt 27 europäische Länder, wenn da jeder ein paar Hundert aufnehmen würde, dann wäre schon viel gewonnen. Natürlich kann man sagen, dass dann neue Flüchtlinge nachkommen würden. Aber es gibt auch mehr als drei Millionen in der Türkei und im Libanon, wo es fünf Millionen Einwohner gibt, sind etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. In so einem kleinen Land! In Jordanien und im Irak ist es das gleiche. Deswegen glaube ich schon, dass auch andere Länder mithelfen und Flüchtlinge von dort aufnehmen könnten.