"Freedom Day" oder Leichtsinn?

So finden idowa-Leser Großbritanniens Öffnungsentscheidung


Menschen in Leeds feierten in der Schlange vor der "Viaduct Bar", nachdem am 19. Juli um Mitternacht die meisten Corona-Maßnahmen in Großbritannien aufgehoben wurden. Ähnlich sah es überall im Land aus - aber nicht alle heißen den kompromisslosen Öffnungskurs gut.

Menschen in Leeds feierten in der Schlange vor der "Viaduct Bar", nachdem am 19. Juli um Mitternacht die meisten Corona-Maßnahmen in Großbritannien aufgehoben wurden. Ähnlich sah es überall im Land aus - aber nicht alle heißen den kompromisslosen Öffnungskurs gut.

Von Redaktion idowa und mit Material der dpa

Seit einer Woche gelten in Großbritannien fast keine Corona-Maßnahmen mehr, Premierminister Boris Johnson hat sein Land öffentlichkeitswirksam "geöffnet". Dabei sind die Fallzahlen aktuell auf einem hohen Niveau und die Delta-Variante macht England zu schaffen. Britische Mediziner und internationale Medien äußern Kritik - unsere Leser wiederum sind geteilter Ansicht.

Mit großem Trara zelebierte Johnson am 19. Juli den weitgehenden Wegfall der Corona-Maßnahmen im Land: Der "Freedom Day" wurde zum Befreiungsschlag, zum offiziellen Ende der Pandemie in Großbritannien hochgejazzt. Trotz hoher Corona-Fallzahlen haben die Menschen also wieder deutlich mehr Freiheiten. Tausende Feierwütige begrüßten den "Freedom Day" laut Berichten britischer Medien bereits in der Nacht in den Clubs des Landes, die erstmals seit mehr als einem Jahr wieder öffnen durften. Die Regierung hat fast alle verpflichtenden Corona-Maßnahmen aufgehoben und appelliert an die Eigenverantwortung der Menschen. Abstand halten und Maske tragen sind in vielen Bereichen fortan Privatsache.

Boris Johnson setzt dabei voll auf die Erfolge der weit fortgeschrittenen Impfkampagne und die Eigenverantwortung der Menschen. Inzwischen haben 88 Prozent der Erwachsenen im Vereinigten Königreich eine erste Impfung erhalten. Knapp 68 Prozent sind bereits zweimal geimpft. Doch Experten warnen, dass die Situation trotz der hohen Impfquote außer Kontrolle geraten könnte. Bereits jetzt werden täglich zum Teil mehr als 50.000 Fälle registriert - beinahe so viele wie zum Höhepunkt der zweiten Welle zum Jahreswechsel. Die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritannien lag am 18. Juli, also einen Tag vor der Öffnung, bei 497. Seit einigen Tagen geht die Zahl der Neuinfektionen wieder leicht zurück.

Eine Woche nach dem "Freedom Day" fragen sich Politik, Medien und Öffentlichkeit: Ist Johnsons radikale Öffnung ein wichtiger Feldversuch, um das "Leben mit dem Virus" zu lernen, das manche propagieren - oder ein gefährliches Durchseuchungs-Experiment an der eigenen Bevölkerung? Dass diese Frage auch unsere Leser umtreibt, zeigen allein schon die stattlichen 3.106 abgegebenen Stimmen bei unserer Umfrage zum Thema. 1.553 oder genau 50 Prozent der Antwortenden finden dabei, es sei längst überfällig, dass ein Land diesen Schritt gehe - Deutschland müsse sich ein Beispiel nehmen. 1.211 Menschen oder 39 Prozent hingegen finden, die Entscheidung sei angesichts der Infektionszahlen und der Gefahr durch die ansteckendere Delta-Variante unverantwortlich. Dass eine schrittweise Lockerung der Maßnahmen sinnvoller gewesen wäre, finden nur 342 oder knapp 11 Prozent der Teilnehmer.

Facebook-Meinungen zwischen Euphorie und Sarkasmus

Ein Blick in die Kommentare unter unserem wöchentlichen Umfrage-Post auf Facebook zeigt, dass dort die Befürworter des britischen Wegs in der Mehrzahl sind. "Die machen es richtig", schreibt eine Userin. "Respekt, de ham Eier", findet ein Nutzer und jemand anders schreibt, er sei kein Fan von Johnson, "aber er versucht zumindest, mal wieder ein geregeltes Leben einzuführen. Auch wir werden nicht drum rum kommen, uns mit Corona zu arrangieren und zu versuchen damit zu leben." Das berge natürlich Gefahren, aber man habe auch schon viel über die Krankheit gelernt und die Menschen zeigten heute mehr Eigenverantwortung. In eine ähnliche Kerbe schlagen viele der Kommentare: "Corona wird nie mehr verschwinden", heißt es da, "und wir können uns nicht ein Leben lang einsperren." Ein weiterer User schreibt, er verstehe Rücksichtnahme "in Bus, Bahn, beim Einkaufen und beim Arzt, da auch gesundheitlich geschwächte Menschen das nutzen müssen, aber in der Freizeit und bei allen nicht lebensnotwendigen Situationen muss jeder selber wissen ob man sich das zumuten will. Ich finde das Vorgehen absolut richtig."

Manche Kommentatoren äußern sich jedoch auch bedeutend skeptischer. "Wer hätte gedacht, dass sich Großbritannien so selbstlos für diesen Feldversuch, vor dem sämtliche Wissenschaftler warnen, hergibt?", fragt jemand sarkastisch. "Eine Insel kann man schön abriegeln, und der Rest der Welt kann sich entspannt zurücklehnen und gucken was passiert." Auch wird auf die Tatsache eingegangen, dass Boris Johnson das Maßnahmen-Ende aus seiner Corona-Quarantäne heraus verkündet hatte: "Das muss dieser berühmte britische Humor sein, toll!" Eine Nutzerin stellt auf gut Bairisch fest "Konn gscheid nach hinten los geh" und ein Nutzer schreibt "Wenn sie auf ihrer Insel eingesperrt werden, ist mir das egal." Wie unklar der Ausgang des britischen Experiments aktuell noch ist, versinnbildlicht ein weiterer Kommentar: "Wir werden sehen...".