England Shrovetide Football: Die Mutter aller Derbys

Im Fluss Henmore wird das Fußballspiel oft zur Wasserschlacht. Foto: Günter Schenk

Beim Shrovetide Football in Ashbourne kämpfen Tausende ohne Rücksicht auf Verluste um den Sieg.

Hoch fliegt der Ball durch die Church Street, Ashbournes Hauptstraße, knallt laut gegen eine Scheibe. Zum Glück ist sie mit Brettern vernagelt, so wie die meisten in dem kleinen Marktflecken Derbyshires, wo Jahr für Jahr am Fastnachtsdienstag und Aschermittwoch Tausende hinter einer schweren Lederkugel herjagen.

In Ashbourne sind die Kicker-Fronten klar, kämpfen die aus der Oberstadt traditionell gegen die Südstädter. "Up'ards" gegen "Down'ards", eine Kraftprobe zweier Stadtviertel. Eine Mischung aus Ringkampf und Raufball, bei der sich keine Seite was schenkt. Schiedsrichter, die ein Foul pfeifen könnten, gibt es nicht. Nur uniformierte Ordnungshüter, die darauf achten, dass sich die Spieler nicht gegenseitig totschlagen.

Vermutlich waren es junge Leute, die Anfang des 18. Jahrhunderts die Idee zum Shrovetide Football aus dem benachbarten Städtchen Derby mitgebracht hatten. Auch dort kämpften bis 1846 zwei Stadtviertel einmal jährlich um den Sieg. Dort wurde gegen Mittag ein Ball wie heute noch in Ashbourne unters Volk geworfen.

In Ashbourne ist der Ball eine bunt bemalte Lederkugel. Ein handgenähtes Einzelstück, gefüllt mit Kork und Sägespänen, die den Ball im meist feuchten Lauf des Tages immer schwerer machen. Spielfeld ist der Raum zwischen zwei rund fünf Kilometer auseinander liegenden Steinsäulen. Um einen Treffer zu erzielen, müssen die dort angebrachten Markierungspunkte dreimal kurz hintereinander vom Ball berührt werden. Fällt ein Tor vor 17 Uhr, kommt ein neuer Ball ins Spiel. Der Torschütze darf die lederne Trophäe behalten. Auf Wunsch wird sie neu bemalt.

England ist stolz auf seine Kicker-Tradition, auch wenn böse Zungen behaupten, die Römer hätten das Spiel mit dem Ball auf die Insel gebracht. Schon im 12. Jahrhundert berichtet eine Chronik vom "lusum pilae celebrem", einem "berühmten Ballspiel" Londoner Jugendlicher vor den Toren der Stadt. "Sie haben Tricks, ihren Gegner mit den Ellenbogen aufs Herz zu treffen und mit den Fäusten unter die kurzen Rippen zu stoßen oder hundert mörderische Kniffe dieser Art anzuwenden".

"Ein abscheuliches Spiel"

In Nottinghamshire, der Heimat Robin Hoods, missfiel einem Pfarrer das Treiben auf den Straßen. "Junge Burschen", notierte der Gottesmann, "befördern während dieses Spiels einen riesigen Ball, aber sie werfen ihn nicht etwa mit der Hand, sondern stoßen ihn mit den Füßen. Ein recht abscheuliches Spiel, um nicht zu sagen gewöhnlich und unwürdig des Menschen, unnützer als jedes andere Spiel. Überdies endet es selten ohne Unfall."

1583 verfasste Philip Stubbes sein Pamphlet gegen das "blutrünstige Handgemenge. Lauert nicht jeder der Spieler, wie er gegen seinen Gegner boxen und ihn zu Boden stoßen kann, auch wenn der Boden voller harter Steine ist? Und wer dabei am rücksichtslosesten vorgeht, genießt das höchste Ansehen und sonnt sich in der Bewunderung der Zuschauer. Auf diese Art brechen sich dann die Spieler manchmal das Genick, zuweilen die Beine oder Arme oder schlagen sich die Augen aus... Wie lässt sich ein solch mörderisches Spiel mit dem geheiligten Sonntagsfest vereinen?"

Kein Wunder, dass Staat und Kirche das Spiel immer wieder verboten, auch in Ashbourne, wo die Polizei Mitte 19. Jahrhunderts mehrfach Anlass zum Einschreiten sah. Hunderte von Kickern wurden damals festgenommen. Auch wenn sich die Bürger mit Protestplakaten wie "Briten sind keine Sklaven" gegen die Aktionen der Ordnungshüter wehrten, die Spielmoral sank weiter. 1878 erreichte sie ihren Tiefststand, als betrunkene Männer und Frauen sich eine blutige Steinschlacht mit Schutzleuten aus der Nachbarschaft lieferten.

Lederkugel an die Prinzessin

Anfang letzten Jahrhunderts aber besserte sich vieles, entdeckte Ashbourne im Spiel ganz neue Werte. 1916 schickte man einen Ball zu den Soldaten an die Front. Acht Jahre später erhielt Prinzessin Mary eine Lederkugel aus Ashbourne zur Hochzeit. Eine Aufmerksamkeit, für die sich der Prinz of Wales 1928 mit einem persönlichen Besuch bei den Spielern revanchierte. Damit war der ordinäre Kick geadelt, 2003 gab Prinz Charles den Ball frei.

Im Laufe der Jahre hatten sich die Spieler immer neue Tricks einfallen lassen: 1946 zum Beispiel schnappte sich ein Motorradfahrer den Ball, um zu punkten. Zehn Jahre später ging einer mit dem Auto auf Torejagd, 1957 einer mit einem Pony. Als 1987 freilich jemand mit der Lederkugel im Inneren eines Fahrzeugs verschwand und davonraste, brachen die Schiedsrichter den Kampf kurzerhand ab. Um das künftig zu verhindern, wurden die Regeln geändert. Wenn der Ball jetzt mehr als eine Stunde verschwunden bleibt, ist das Spiel zu Ende.

Abends bestimmen Blitzlichter die Szenerie: So verlagert sich der Kampf gewöhnlich in die für jeden Autoverkehr gesperrte Innenstadt. Rund um die Pubs wird dann gekickt, wobei sich die Massen in den Gassen verkeilen. Selbst Frauen sind jetzt mit von der Partie. Sogar Tore, verraten die Burschen, hätten sie hin und wieder schon gemacht. Früher spielte man bis Mitternacht, doch inzwischen macht man um zehn Uhr abends Schluss. Schuhe und Hosen sind dann meist verdreckt, die Hemden zerrissen. Nicht zu übersehen auch die Schrammen in den Gesichtern. Doch das ist Nebensache. Was zählt an diesem Abend ist das Gefühl, beim wahrscheinlich weltgrößten Kick dabei gewesen zu sein.

Auch morgen Mittag werden sie wieder mitmachen, den Ball noch einmal kreuz und quer durch Ashbourne treiben.

 
 
 

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