Gastland Kanada auf der Buchmesse „Die Literatur wird immer bunter“

Eine Mitarbeiterin der Frankfurter Buchmesse (rechts) steht vor der Eröffnungspressekonferenz der Frankfurter Buchmesse an einem Buchstand in der Festhalle. Die corona-bedingte Sonderausgabe 2020 der Buchmesse findet vom 14. bis 18. Oktober statt. Dr. Dagmar Schmelzer (links) erläutert im Gespräch mit idowa Grundzüge der französischsprachigen kanadischen Literatur. Foto: Material von Arne Dedert/dpa pool/dpa/Schmelzer

Was macht kanadische Literatur aus? Dr. Dagmar Schmelzer ist am Lehrstuhl für Französische und Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Regensburg tätig. Zum Start der Frankfurter Buchmesse (14. - 18. Oktober), die in diesem Jahr unter Corona-Bedingungen digital stattfindet, erläutert sie, welche Themen speziell für die französischsprachige kanadische Literatur bedeutsam sind – vom bäuerlichen Winter über die „deux solitudes“ bis zu den „first nations“.

Prägendes Element der Literatur und Kultur Kanadas ist seine Zweisprachigkeit. Ungefähr ein Viertel der Bevölkerung ist frankophon. In der Provinz Québec, die auch der historische Kern Kanadas ist, sprechen etwa 80 Prozent der Bevölkerung Französisch als Muttersprache. Gleichzeitig ist Französisch aber bezogen auf das gesamte Land eine Minderheitensprache – eine kreative Spannung, die eine ganz eigene literarische Identität hervorbringt. Über Vergangenheit und Gegenwart dieser Identität spricht Dr. Dagmar Schmelzer im Interview mit idowa.

Welches Bild haben Sie spontan vor dem geistigen Auge, wenn Sie an kanadische Literatur denken?

Dr. Dagmar Schmelzer: Was mir zuerst einfällt, ist Winter, bäuerliches Leben unter relativ harten Verhältnissen. Ein karges Leben, das auch wenig Sprache verwendet. Deswegen auch eine Literatur, die versucht, etwas auszudrücken, das bis zu einem gewissen Grad mehr gefühlt als gesprochen ist. Dazu gibt es einen Roman mit dem Titel „Maria Chapdelaine“ aus dem Jahr 1913 von einem Autor, der aus Frankreich ist, Louis Hémon. Das ist nun natürlich ein relativ traditionelles Bild von Québec. Das Land hat sich in der Zwischenzeit sehr stark gewandelt und die Literatur auch. Heute ist Québec wie ganz Kanada ein modernes Einwanderungsland. Man setzt auf Migrationspolitik, es ist eine multikulturelle Gesellschaft mit lebendigem Großstadtleben und globaler Orientierung. Aber es gibt natürlich auch gewaltige Naturräume im Hintergrund – das Land ist sehr groß, flächenmäßig das zweitgrößte der Erde.

Kann man überhaupt von kanadischer Literatur sprechen und wenn ja, was zeichnet sie aus?

Schmelzer: Kanadische Literatur muss man differenzieren in anglophone kanadische Literatur und frankophone Literatur. Es gib für Kanada ja immer den Begriff der „two solitudes“ beziehungsweise der „deux solitudes“, also der zwei Einsamkeiten. Das ist so, weil sich diese beiden, also frankophone und anglophone Literatur und auch Kultur, nebeneinander entwickeln. Und die frankokanadische Literatur reagiert auch auf eine Minderheitensituation und ist deswegen auch etwas kämpferischer ausgerichtet. Sie stand lange Zeit über im Dienste der Identitätspolitik. Das gilt zum Beispiel in den 60er Jahren für politische Lyrik. Ein gutes Beispiel ist das Gedicht "Speak white" der Montréaler Autorin Michèle Lalonde. Sie kritisiert darin die Diskrimierung der Frankophonen, die sich genötigt fühlten, "weiß", das heißt "Englisch" zu sprechen, und ihre kulturellen Wurzeln zu verleugnen, wenn sie gesellschaftlich aufsteigen wollten. Es gibt in Québec auch viel Essayistik zum Identitätsthema. Und es gibt über viele Jahrzehnte eine Tendenz, mündlich orientierte Literatur zu produzieren, auch im Übergang zum Chanson. Was damit zusammenhängt, dass man die gesprochene französische Variante, das sogenannte Joual, besonders wertschätzen möchte. Ab den 80er Jahren gestalten sich die Dinge dann wieder etwas anders. Diese Sachverhalte sind verbunden mit der Zeit, in der Québec versucht hat, sich politisch von Kanada zu lösen.

 
 
 

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