Auslandsblog

Lena (24) reist mit dem Rucksack durch Lateinamerika


Lena Maria Held hat in diesem Jahr ihren Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaften gemacht. Jetzt will sie die Welt bereisen.

Lena Maria Held hat in diesem Jahr ihren Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaften gemacht. Jetzt will sie die Welt bereisen.

Von Redaktion idowa

An der Ludwig-Maximilians-Universität München studierte Lena Maria Held (24) nach ihrem Abitur am Hans-Carossa-Gymnasium Landshut Soziologie und Politikwissenschaften. Die Soziologie ist die "Wissenschaft der Gesellschaft". Sie befasst sich mit den zahlreichen Facetten menschlichen Zusammenlebens. Das Studium der Politikwissenschaft ist keineswegs die erste Stufe auf der Karriereleiter zum Politiker. Vielmehr versuchen Politikwissenschaftler, politische Handlungen zu verstehen und zu erklären.

Mit ihrem Bachelor-Abschluss im Herbst 2014 fasste Lena den Entschluss, ihr geliebtes Bayern erstmals für längere Zeit zu verlassen. Mit einem Rucksack voller Bücher und einem Kopf voller Ideen bereist sie nun auf unbestimmte Zeit die Länder Lateinamerikas. Ausgangspunkt ist die bolivianische Stadt Santa Cruz de la Sierra. Der weitere Reiseverlauf bisher gänzlich offen. Besonders interessiert sich Lena für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturkreise.

Gern lauscht sie den Geschichten und Lebensweisheiten der Einheimischen und berichtet euch regelmäßig über den Alltag Lateinamerikas und über ihre Reiseabenteuer.

Eintrag 14 Geschichtenerzähler im Paradiestal. Die Hafenstadt Valparaíso

Am Plaza el Descanso scheint die Sonne. Auf der mit bunten Glassteinen verzierten Sitzfläche sitzen einige Dutzend junge Chilenen im Halbkreis und lauschen den Worten der Geschichtenerzähler, die sich hier jeden Sonntag zur "Dominguera" (von ,domingo', zu deutsch Sonntag) einfinden. Bei dem wöchentlich stattfindenden Treffen kann jeder unter freiem Himmel seine Geschichten zum Besten geben - ob erfunden, wahr, komisch, sentimental, ernst oder magisch. In den Pausen treten Musikanten auf, angehende Zauberkünstler vollführen Kartentricks und Tanzgruppen nutzen die freiliegende Fläche zum rhythmischen Hüftenschwingen zu wilden Trommelklängen.

Gerade trägt ein etwa 20-jähriger schlanker Chilene in Jeans-Latzhosen mit großzügiger Gestik ein Gedicht über die blutige Vergangenheit Lateinamerikas vor. Kinder, Teenager, Erwachsene und Hunde lauschen gebannt seiner klaren und klangvollen Stimme. Jeder, der den Mut hat, seine Fähigkeiten zu präsentieren, kann dies hier vor einem unvoreingenommenen und gutmütigen Publikum.

Neben dem allsonntäglichen Spektakel lädt der Plaza el Descanso auch an stilleren Wochentagen zum Verweilen ein. Nicht umsonst trägt er den Namen "Platz der Erholung". Zwischen drei Hügeln - Cerros genannt - im Herzen der chilenischen Hafenstadt Valparaíso gelegen, bietet er eine angenehme Pause vom ununterbrochenen Treppensteigen, das in einer Stadt mit 45 Hügeln trotz der Ascensores, alter Aufzüge aus den Jahren 1883 und 1916, unvermeidbar ist.
In seinen Memoiren schrieb der chilenische Dichter Pablo Neruda über diese Besonderheit seiner Lieblingsstadt: "Treppen! Keine Stadt hat sie in ihrer Geschichte so verschwendet und aufgeblättert, hat sie in ihrem Angesicht so ausgestreut und vereint wie Valparaíso. [...] Wenn wir alle Treppen Valparaísos begangen haben, sind wir um die Welt gereist."

Valparaíso liegt westlich der Hauptstadt Santiago in einer Bucht des pazifischen Ozeans. Im Jahr 2003 wurde der historische Stadtkern zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Die Einwohner werden - abgeleitet vom spanischen Wort ,puerto' für Hafen - Porteños genannt. Wegen des Hafens war Valparaíso einst berühmt. "Für sämtliche Händler, Söldner und Abenteurer der Welt, die in Südamerika ein neues Leben beginnen wollten, war Valparaíso das Eingangstor für den Kontinent," schrieb der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa. Seit der Eröffnung des Panamakanals im Jahr 1914 hat der ehemals bedeutendste und größte Handelshafen des Pazifikraumes jedoch an Bedeutung verloren.

Eine wichtige, wenn auch traurige Rolle spielte Valparaíso erneut 1973. Denn im Hafen der Stadt nahm der Militärputsch Pinochets am 11. September seinen Anfang. Neben mehreren Erdbeben zerstörte im im April verganenen Jahres ein Großbrand zahlreiche Häuser. 15 Menschen kamen dabei ums Leben. Im Jahr 2015 ist Valparaíso mit seinen großflächigen Graffitis und den bunten oft schäbigen und doch charmanten Häusern, den Blumentöpfen und Wäscheleinen Heimat der alternativen Szene Chiles. Im Land des Fleisches und der Meeresfrüchte entstehen in den schmalen Gässchen Restaurants mit veganer Küche. Die Atmosphäre ist einzigartig: zugleich dreckig und freundlich, bunt und trüb. Nicht umsonst liebte Pablo Neruda die "Sebastiana", sein Haus auf dem Cerro Bellavista, dem Hügel der schönen Aussicht, mit Blick über die Stadt, deren Name Paradiestal bedeutet. Von den großflächigen Fenstern seines Hauses, das heute Besuchern zugänglich ist, hatte er einen einmaligen Ausblick über die von bunten Häusern überwachsenen Hügel Valparaísos auf den milchig-blauen Pazifik, der mit dem Himmel zu verschmelzen scheint. Manchmal sieht es von dort aus, als würden die Boote nicht das Meer, sondern den Himmel befahren.

Vermutlich sind es der umherwehender Geist des Dichters und die eigenartige Schönheit der Stadt, die die jungen Menschen zur Poesie führt und sie jeden Sonntag zum Geschichtenerzählen und -lauschen auf den Plaza el Descanso treibt.

Eintrag 13: Massentourismus auf dem Maccu Picchu

Von Cusco, die ehemalige Hauptstadt des Inkareiches, dessen verwinkelte Gässchen und imposante Kolonialbauten Erinnerungen an Regensburg wachrufen, wandern meine Moosburger Freundin Eva und ich über den Salkantay Trek zu den Ruinen der Inkasiedlung Machu Picchu, übersetzt "Alter Gipfel".

Die anstrengende Tour führt uns durch ungleiche Landschaften von tropischen Wäldern bis hin zu verschneiten Berggipfeln. Stellenweise von dichten Nebelschwaden verschluckt, finden wir uns schließlich auf über 4 600 Metern Höhe in einem Schneeschauer wieder. Nur einige Wanderstunden später begleitet uns erneut die sengende Sonne der Anden auf unserem Weg. Nach vier Tagen, in denen wir über siebzig Kilometer bewältigen, erreichen wir stolz das Dorf Machu Picchu Pueblo am Fuße des Machu Picchu Wegen seiner heißen Quellen wird das Dorf auch Aguas Calientes genannt. In einer Schlucht gelegen und von reißenden Flüssen umgeben, hinterlässt die Kulisse des touristischen Dorfes einen spektakulären Eindruck.
Wegen des Platzmangels ragen die hohen Häuser teilweise über den Fluss und die reißenden Fluten hinaus. In der Stadt selbst reihen sich Restaurants an Souvenirshops und Hotels. Mittlerweile ist das Zuwandern verboten, denn die Lage des Ortes ist nicht nur spektakulär, sondern auch gefährlich. Das Abholzen der umliegenden Wälder erhöht die Gefahr von Erdrutschen. 2010 war das Dorf wegen Wasserlawinen bereits gesperrt und die Bevölkerung wie Besucher mussten evakuiert werden. Dennoch wächst der Ort weiter. Denn er ist Ausgangspunkt für den Besuch des Machu Picchu und somit eine gigantische Geldquelle.

Auch wir erklimmen von dort in der Morgendämmerung des folgenden Tages die steilen Steintreppen, die zur Inkasiedlung hinaufführen. Zwischen Nebelschwaden, Dunst und schwachen Sonnenstrahlen erblicken wir erstmals den Machu Picchu, und sind hingerissen. Denn der Anblick, der sich uns offenbart, ist beeindruckend. Wir sehen von oben auf die steinerne Siedlung hinab, die inmitten von grünen Felsformationen 2 400 Meter über dem Urubamba Fluss gelegen in surreales Licht getaucht, ihren Zauber entfaltet. Die wenigen Touristen schweigen andächtig. Es herrscht eine mystische Stimmung.

Bevor der amerikanische Forscher Hiram Bingham die Stätte 1911 berühmt gemacht hat, war die Anlage von Urwald überwachsen. Heute sind die Gebäude freigelegt und es wirkt, als hätten die Inkas die Stadt erst vor wenigen Wochen verlassen. Doch schon kurze Zeit später erreichen erste Reisebusse von Aguas Calientes die Siedlung und binnen weniger Minuten wird das Areal von Touristen überflutet. Offiziell dürfen pro Tag 2 500 Besucher auf das Gelände. Der Verkauf von Eintrittskarten ist beschränkt, doch oft sind täglich mehr als 4 000 Reisende zwischen den Ruinen unterwegs, denn die Parkbetreuer verzichten ungern auf zusätzliche Geldquellen.
Schilder weisen auf ein Verbot hin, nackt zwischen den alten Mauern zu posieren. Scheinbar ist es in den vergangenen Jahren populär geworden, sich entblößt vor der alten Inkastadt fotografieren zu lassen. Während des Drehs für einen Bierwerbespot in Machu Picchu brach ein Kameramann ausversehen Teile eines Monuments ab. Einstimmig waren Experten daher vor den Schäden, die durch die unkontrollierten Menschenmassen verursacht werden.

Machu Picchu, laut mehrerer Archäologen ehemals ein Verwaltungszentrum, war ursprünglich für etwa 300 Bewohner konzipiert. Die Schritte der zahlreichen Touristen erschüttern die Gemäuer, Steine werden locker und bröckeln. Auch hinterlassen die Besucher Müll, Zigarettenstummel und getrocknete Kaugummis. Die wachsamen Augen der zahlreichen Parkwächter, die Missetäter mit ihren Trillerpfeifen zurechtweisen, sehen nicht alles. So beobachte ich Touristen, die für das perfekte Foto altes Mauerwerk erklimmen.

Um die langfristige Zerstörung von Machu Picchu zu verhindern, müssen dem Wachstum Grenzen gesetzt werden. Doch die mächtige Tourismusindustrie übt starken Druck aus. Trifft die peruanische Regierung keine Maßnahmen, ist es Aufgabe der UNESCO einen Wandel zu erzwingen, um ein bedeutendes Erbe der Inkakultur für künftige Generationen zu erhalten. Etwa durch den Entzug des Weltkulturerbe Titels.

Eintrag 12: Weißes Gold in der "Route 36"

Mit meinem Mitreisenden Hauke und unserem neuen Zimmergenossen Peter sitze ich in der ersten Woche meiner Reise in einem bolivianischen Restaurant. Peter, ein knapp 20-jähriger, deutscher Student erzählt gerade Geschichten über das wilde La Paz, in dem er einige Tage verbracht hat, als er plötzlich seine Stimme senkt: "Habt ihr schon von der Route 36 gehört?", fragt er mit großen Augen. Wir verneinen. Er beginnt zu erzählen.

Die Route 36 sei eine berüchtigte Bar in La Paz, in der nicht nur Bier und andere alkoholische Getränke ausgeschenkt werden, sondern auch Kokain offen zum Konsum angeboten wird. Um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, wechseln die Betreiber regelmäßig den Standort. Es sei jedoch nicht schwierig, die Bar zu finden. Man müsse einfach unter einheimischen Taxifahrern herumfragen. Es fände sich immer jemand, der den aktuellen Standort kenne. Er selbst sei dort mit anderen Reisenden gewesen. Wir sind verblüfft.

Schnell habe ich die Bar jedoch wieder vergessen. Bis mir einige Wochen später der nächste Reisende, ein Ingenieur aus der Schweiz, von seinen Abenteuern in La Paz erzählt. Auch er war mit einigen Hostelbekannten in der Drogenbar. So geht es weiter. Immer wieder flechten Backpacker, die sich in La Paz aufhielten, in ihre Berichte Zwischenstopps in die "Route 36"-Bar ein. Einige derer, die noch nicht dort waren, ziehen einen Besuch in Erwägung. Selbst im benachbarten Peru ist die "Route 36" ein Begriff. Die Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert. Neben einer Radtour auf der nahe La Paz gelegenen Death Road, auf deren schmalen Weg nebst steilen Klippen nach Schätzungen jährlich über 200 Menschen verunglücken, scheint ein Besuch in der Kokainbar ein rot markierter Punkt auf der "Das musst du gemacht haben!"-Liste der "furchtlosen" Backpacker zu sein. Das ist bedenklich, denn unabhängig von gesundheitlichen Schäden für den Konsumenten, verursacht die Gier nach dem weißen Gold weltweit unermessliche Schäden für Mensch und Natur. Beispielsweise sind die Kartelle, die der Drogenkonsument unterstützt, auch für den bolivianischen Kinderhandel und Prostitution Minderjähriger im Grenzgebiet nahe Brasilien verantwortlich.

Ich beschließe über die Bar zu recherchieren. Es ist doch verwunderlich, dass ich bereits nach einer Woche in Bolivien von der Kokainbar gehört habe, die Polizei vor Ort aber ahnungslos zu sein scheint. Ich finde einen Artikel in der Tageszeitung "Guardian". Der Journalist Jonathan Franklin berichtet darin bereits 2009 über die "Route 36". Die Bar existierte also schon vor über fünf Jahren! Als ich schließlich noch einen Wikipedia-Eintrag über die "Route 36"-Bar finde, in dem von tausenden Reisenden, die jährlich die Bar frequentieren, die Rede ist, bin ich überzeugt, dass deren Fortbestand nicht auf mangelnde Information der Drogenpolizei zurückzuführen ist.

Polizeiliche Korruption ist in Bolivien aufgrund der niedrigen Löhne bolivianischer Polizisten ein enormes Problem. Vermutlich machen sich die Betreiber der Bar diesen Missstand zunutze. Es gibt aber auch Theorien, die auf höhere Ebene ansetzen. Bolivien ist einer der größten Kokainproduzenten der Welt. Trotz schwerer Vorwürfe wehrt sich die Regierung gegen die Kontrollen der US-amerikanischen Anti-Drogen-Behörde DEA (Drug Enforcement Administration). Das Thema ist prekär. Kokain ist in Bolivien illegal, doch der Anbau der Kokapflanze, aus deren Blättern die Droge hergestellt wird, ist rechtmäßig. Seit Jahrhunderten ist das Kauen der Kokablätter für die Einheimischen unverzichtbarer Bestandteil ihrer Kultur. Legenden ranken sich um deren Entdeckung. Ihrem Saft werden heilende Kräfte zugeschrieben. Die Pflanze zu verbieten, bedeutet neben der Erwerbslosigkeit zahlreicher Kokabauern, deren Schutz dem Präsidenten Evo Morales, selbst ehemals Kokabauer, besonders am Herzen liegt, den Verlust eines Kulturguts.

Bei genauerem Hinsehen wird jedoch klar, dass große Teile der Kokaernte nicht zu unbedenklichen Produkten wie Kokatee verarbeitet werden. Das mag unter anderem an Ausfuhrverboten für Kokaprodukte liegen. Ein Vorwurf an die bolivianische Regierung lautet daher, die Kokainherstellung zu begünstigen. Gerüchte über die Verwicklung bolivianischer Regierungsmitglieder in den Kokainhandel kursieren ebenfalls. Das arme Land kämpft an vielen Fronten zugleich und die Herstellung wie der Handel von Kokain werden voraussichtlich auch in den nächsten Jahren nicht gestoppt werden können.

Eintrag 11: Peru 1 - Höhenkrank in Huaraz

Aus Moosburg kommt meine Freundin Eva und mit ihr ein Stückchen Heimat nach Peru. Gemeinsam reisen wir von der gigantischen Hauptstadt Lima aus in die Gebirgsstadt Huaraz. Etwa 450 Kilometer nördlich von Lima liegt die raue 55.000 Einwohnerstadt auf etwa 3.100 Metern über dem Meeresspiegel. Die Stadt dient als Ausgangspunkt für Touren in die Hochgebirgsregion Cordillera Blanca, die weiße Bergkette, die mit dem 6.768 Meter hohen Nevado Huascarán den höchsten Berg Perus beherbergt.

Die Einwohner der malerischen Region blicken auf eine erschütternde Vergangenheit zurück. Im 20. Jahrhundert wurden sie Opfer mehrerer Naturkatastrophen. 1941 ging aufgrund eines Eissturms ein hochgelegener Moränenwall zu Bruch. Eine monströse Flutwelle raste daraufhin auf Huaraz zu. In einer knappen Viertelstunde hatte die verschlingende Wasserflut die Stadt erreicht, die sie größtenteils zerstört hinterließ. Dabei starben über 5.000 Menschen. Am 31. Mai 1970 erschütterte ein starkes Erdbeben das wieder aufgebaute Huaraz und forderte erneut 10.000 Menschenleben. In der nahegelegenen Stadt Yungay am Fuße des Nevado Huascarán verursachte ebendieses Erdbeben einen Bergsturz, der den gesamten Ort vernichtete und 70.000 Leben kostete.

Heute haben sich die robusten Bewohner der Andenregion wieder erholt. Huaraz zieht Touristen an, die das eindrucksvolle Umland erkunden wollen. Die traurige Vergangenheit der Region und die Gefahren dieser sind den meisten Reisenden unbekannt. Vielmehr fürchten sie die Höhenkrankheit, die in Lateinamerika Soroche genannt wird. Einheimische wie Touristen sind ab einer Höhe von 2.500 Metern gefährdet. Nur Tibeter, die genetisch bedingt über eine erhöhte Atemfrequenz verfügen, sind immun dagegen. Wegen des sinkenden Luftdrucks verengen sich nämlich die Blutgefäße, daraufhin wird weniger Sauerstoff aufgenommen. Ausgelöst durch den Sauerstoffmangel im Blut treten abhängig von Höhe und Geschwindigkeit Symptome wie Kopfschmerz, Schwindel, Atemnot und schließlich Übelkeit und Erbrechen auf. In einigen Fällen endet die Krankheit tödlich.

Eva und ich nehmen das Risiko auf die leichte Schulter und beschließen, eine Tagestour zur schönen Laguna 69 zu unternehmen. Das ist ein leuchtend blauer See auf etwa 4.650 Metern Höhe unter den mächtigen Eiswänden des 6.000ers Chacraraju. Während der sechsstündigen Wanderung überwinden wir über 700 Höhenmeter. Etwa ab 4.500 Metern klagt Eva über Beschwerden. "Jeder Schritt ist wie ein Hundertmetersprint mit einem Kartoffelsack auf dem Rücken", beschreibt sie den Aufstieg. Dazu kommen mit steigender Höhe Übelkeit, starke Kopfschmerzen und Schwäche - trotz der Cocablätter, die wir auf Empfehlung der Andenbewohner während des Aufstiegs gegen die Höhenkrankheit kauen. Dennoch schaffen wir es unter Anstrengungen zur fast unwirklich hellblauen Laguna 69.

Wie wir später recherchieren, waren Evas Probleme mit der Höhe vorherzusehen. Der Körper braucht einige Tage, um sich an die Höhe zu gewöhnen und sich zu akklimatisieren. Bei nichtakklimatisierten Wanderern, wie Eva es war, sind ab einer Höhe von 4.500 Metern 50 bis 85 Prozent der Bergsteiger von der Höhenkrankheit betroffen. Mangelnde Sportlichkeit ist dabei nicht ausschlaggebend, denn sie verhindert eher den allzu raschen Aufstieg. Insgesamt erkranken Frauen und junge Menschen unter 46 Jahren häufiger.

Ein berühmter deutscher Naturforscher hatte über 200 Jahre vor Eva mit der Höhenkrankheit zu kämpfen. Bei der Besteigung des Chimborazo, des höchsten Bergs im benachbarten Ecuador, litt Alexander von Humboldt an den Symptomen des Soroche und musste umkehren. Mit unserem neuen Wissen sind wir nun bestens vorbereitet, uns an die Besteigung des Machu Picchu zu wagen. Zuvor werden wir uns jedoch im hochgelegenen Cusco gründlich akklimatisieren.

Eintrag 10: Verschluckt vom Cerro Rico

Mit kaum fünf Jahren musste Edwar bereits arbeiten. Als Botenjunge ersetzte er die damals noch nicht vorhandenen Telefone seines Heimatortes im Süden Boliviens. Über mehrere kleinere Jobs landete er schließlich in den Minen Potosís. Schon mit zwölf Jahren war er einer der Mineros, wie die Minenarbeiter in Bolivien genannt werden, die täglich im Cerro Rico, dem reichen Berg, der über der hochgelegenen Stadt Potosí thront, nach wertvollen Gesteinen suchen. Der zinn- und silberreiche Cerro Rico wurde von den spanischen Eroberern über Jahrhunderte hinweg ausgeplündert. Heute bergen die Minenarbeiter noch immer wertvolle Stoffe, doch die Arbeit ist beschwerlicher geworden. Tiefer und tiefer wird in den Berg, in dessen Innersten die Einheimischen einen bösen Teufel vermuten, eingedrungen. Ein gefährlicher Beruf. Täglich verteilen die Mineros kleine Opfergaben, um den Teufel friedlich zu stimmen, darunter Cocablätter und Alkohol. Lamablut an den Eingängen soll seine Gier nach Menschenblut stillen. Doch der Cerro Rico fordert seinen Tribut. Über 10.000 Menschenleben fanden in seinen Tiefen den Tod durch Steinstürze und Sprengstoffunfälle. Gesundheitliche Probleme aufgrund der widrigen Arbeitsbedingung inmitten giftiger Dämpfe sind meist unumgänglich. Trotz alledem arbeiten geschätzte 6.500 Kinder in den Minen. Sie werden dort gebraucht, denn manche Stollen sind so eng, dass nur Halbwüchsige in sie hineinpassen. In diesen platzieren sie minderwertigen Sprengstoff, Verursacher zahlloser Unfälle. Doch nicht nur im Cerro Rico ist Kinderarbeit selbstverständlich. Wer durch Bolivien reist, bemerkt schnell, dass Kinderarbeit den Alltag des armen Landes durchdringt. Schätzungen des Arbeitsministeriums zufolge arbeiten in Bolivien etwa 850.000 Kinder. Das heißt etwa jedes vierte bolivianische Kind. Sie verkaufen Zeitungen, putzen Schuhe, waschen Autos, helfen auf dem Bau, etc.

In den europäischen Medien gab es einen Aufschrei, als das bolivianische Parlament 2014 ein neues Gesetz verabschiedete, demzufolge Kinderarbeit in Ausnahmefällen bereits ab dem zehnten Lebensjahr erlaubt ist. Zuvor mussten Kinder mindestens 14 Jahre alt sein, um arbeiten zu dürfen. Evo Morales war der bedeutendste Fürsprecher des neuen Gesetzes. Seine Biographie ist exemplarisch für die seiner Landsleute. Auch er musste bereits mit fünf Jahren arbeiten. Ehemals Schafshirte, Bäckersgehilfe, Straßenmusikant, Erntehelfer, etc. wurde er schließlich zum Präsidenten seines Landes. Nun wird er harsch kritisiert. Doch hilft man bolivianischen Kindern mit einem Arbeitsverbot? "Nein!", lautete die Antwort zahlreicher Kindergewerkschaften, die gemeinsam für das neue Gesetz kämpften. Ob legal oder nicht, die finanzielle Not zahlreicher Familien macht die Arbeit der Kinder unumgänglich. Das Gesetz verhilft den Minderjährigen immerhin zu mehr Rechten. Ohne rechtmäßige Verträge wurden sie oftmals um ihren Lohn betrogen und geschlagen. Bei Arbeitsunfällen konnten sie auf keinerlei Unterstützung hoffen. Durch das neue Gesetz erhoffen sie sich mehr Rechte sowie eine angemessenere Behandlung. Es ist die Pflicht der Arbeitgeber Ausbeutung zu verhindern und die körperliche und geistige Gesundheit der Minderjährigen zu gewähren. Verboten sind gesundheitsgefährdende Berufe wie die Minenarbeit und die Zuckerrohrernte. Doch mangelnde Kontrollen verzögern die Durchsetzung des Verbots.
Edwar hat es schließlich geschafft, er konnte die Minen verlassen und sich mit seinem gesparten Lohn den Schulabschluss finanzieren. Heute studiert er Kommunikation und Sprachen in Sucre und arbeitet nebenher als Kellner und Wanderführer. Vielen Kinderarbeitern gelingt das leider nicht. Bis bestenfalls 2020, wie die Regierung plant, keine Kinderarbeit mehr nötig ist, sollen durch das neue Gesetz für sie wenigstens anständige Arbeitsbedingungen geschaffen werden.

Eintrag 9: Kulturschock bei den Heilern

Am Nachmittag verirre ich mich auf meinem Streifzug durch den Mercado Campesino in Sucre, einem weitläufigen Markt, der sich über ein ganzes Stadtviertel erstreckt. Als ich im Bereich der Hexer lande, überkommt mich erstmals ein Kulturschock. An ihren Ständen bieten die Heiler medizinische Versorgung, Liebestränke, Voraussagen über das Schicksal, alternative Wege, um an Geld zu gelangen, und vieles mehr an. Es sind aber nicht die Angebote, die mich in Staunen und Ekel versetzen, sondern die zahllosen getrockneten Säugetiere. Sie hängen, in unterschiedlich fortgeschrittenen Stadien der Verwesung, von den Decken der Heilerstände. Einige mit Fellresten, andere bis zur Unkenntlichkeit vertrocknet. Es handelt sich vorwiegend um Schweine-Embryos. Ich erkenne aber auch Lamas und ziegenähnliche Geschöpfe. Eine junge Frau betritt den Stand einer Heilerin und deutet auf ihren Bauch. Sogleich hebt die Ärztin den Pullover der jungen Frau und beginnt mit einem Strauch, leise Worte vor sich hin murmelnd über die unbedeckte Haut zu streichen. Ich bezwinge meine Abscheu vor den toten Tieren und versuche mich, für die jahrhundertealten Praktiken der Einheimischen zu öffnen. Die alte Heilkunst der Einwohner Boliviens ist ein interessantes Gebiet, von dem auch die westliche Schulmedizin profitieren könnte. Dennoch steht es um die gesundheitliche Versorgung des armen Landes schlecht.
Auf dem Cementerio Municipal, dem Hauptfriedhof Sucres, wird mir dies erstmals bewusst. Es schichten und stapeln sich zahlreiche Urnengräber nebeneinander. Die Angehörigen spenden den Toten kleine Annehmlichkeiten. In den kleinen Schaufenstern vor den Urnen befinden sich neben Blumen winzige Colaflaschen, gefüllte Wein- und Likörgläser, süßes Gebäck und saftige Mahlzeiten aus Plastik. Skurril werden die Grabstätten für mich, als ich Barbiepuppen entdecke, die den Namen einer Verstorbenen umrahmen. Als ich zudem Teddybären, Spielzeugfiguren, Miniaturgeschirr, Plastikdinosaurier, Babyfläschchen und Süßigkeiten in den Gräbern sehe, wird mir klar, dass es Kindergräber sein müssen. Auf der Webseite von Index Mundi finde ich Statistiken zur Kindersterblichkeit, die in Bolivien sehr hoch ist. Auf 1.000 Lebendgeborene kommen hier etwa 40 tote Säuglinge in einem Jahr. Zum Vergleich sind es in Deutschland etwa drei bis vier Tote auf 1.000 Lebendgeborene. Ursache dieser Ziffer ist unter anderem die chronische Unterernährung. Dabei haben sich die Werte in den vergangenen Jahren erheblich gebessert. Im Jahr 2000 waren es noch circa 60 Todesfälle auf 1.000 Lebendgeborene. Die Kinder Boliviens leben oftmals unter schlechten Bedingungen. Auf den Märkten sitzen sie tagelang zu Füßen ihrer Mütter auf den dreckigen Böden, essen Süßigkeiten und betteln. Auch Kinderarbeit ist in Bolivien keine Seltenheit. Um mehr über dieses schwierige Thema zu erfahren, reise ich in die hochgelegene Stadt Potosí, in deren Silbermine die Kleinsten der Kleinen zum Arbeiten gezwungen werden.

Eintrag 8: Universitätsstadt Sucre

Im Zentrum von Sucre können Fußgänger entspannen. Hier gibt es zahlreiche Zebras, die den Verkehr regulieren. Keine Zebrastreifen, sondern als Zebras verkleidete Verkehrslotsen. Hüpfend und grüßend verbreiten sie in ihren schwarz-weiß-gestreiften Ganzkörperanzügen gute Laune und sorgen für die Sicherheit der Fußgänger. Zahlreiche weiße Kolonialbauten verleihen Sucre ein europäisches Antlitz. Die Stadt gefällt mir. Ich mache hier einen Spanischkurs. Allmorgendlich beginnt der Tag am Mercado Central, einem gigantischen Markt, auf dem alles Essbare, das Bolivien zu bieten hat, angeboten wird. Hier trinke ich, gemeinsam mit zeitungslesenden Bolivianern, Jugos. Das sind frischgepresste Fruchtsäfte, wahlweise mit Milch oder Wasser zubereitet. Über den grünen und gepflegten Plaza 25 de Mayo, auf dessen Bänken die Einwohner schon morgens das angenehme Klima und die warmen Sonnenstrahlen genießen, erreiche ich meine Sprachschule. Die Universitätsstadt Sucre ist bekannt für qualitativ hochwertigen und zugleich günstigen Unterricht. Nach einigen intensiven Einzelstunden freue ich mich auf den bolivianischen Cappuccino im Condor Café. Das ist ein vegetarisches Restaurant, dessen günstige, schmackhafte Mittagsmenüs Einheimische wie Reisende gleichermaßen anziehen. Vor allem die Sopa de Mani, eine sättigende Erdnusssuppe und Papas Rellenas, mit Käse oder Ei gefüllte Kartoffeln, haben es mir angetan.

Eintrag 7: Durchgeschüttelt im Schlafbus

Im Schlafbus nach Sucre, das klingt vorerst nicht schlecht. Doch nach einigen Wochen in Bolivien bin ich bereits vorgewarnt. Das Verkehrsverhalten hier unterscheidet sich stark vom Fahrstil der Deutschen. Die Bolivianer scheinen es auf Unfälle anzulegen. Wenn ein Fußgänger eine Straße überquert, geben die Autos oft extra Gas und hupen laut. Ich überquere Straßen daher angespannt und sehr schnell. Deshalb freue mich jedes Mal erneut, wenn ich dafür kein empörtes Hupen ernte. Aber nicht nur der Fahrstil der Bolivianer macht Ausflüge zu Abenteuern, auch die Straßen, beziehungsweise der Mangel an Straßen. Oft sind es einfach lehmige, unbefestigte Flächen, die Buckelpisten gleichen. Auf einer Seite der Überlandstraßen befinden sich meist Felsenbrocken, die aussehen, als würden sie jeden Moment abstürzen. Auf der anderen Seite der Straße sind steil abfallende, ungesicherte Abhänge, keinen halben Meter vom Reifen entfernt.

In Samaipata besteigen wir also den Nachtbus, der Santa Cruz mit Sucre verbindet. Die Sitze sind äußerst komfortabel, aber das hilft kaum. Wir werden gute zehn Stunden durchgeschüttelt. Sehe ich aus dem nicht verschließbaren Fenster, blicke ich in tiefe, schwarze Abgründe. Ich erinnere mich an die Empfehlung, in Bolivien nur tagsüber zu reisen, leider gibt es fast ausschließlich Nachtbusse. Am nächsten Morgen erreichen wir weitgehend unbeschadet Sucre. Ich habe mir leicht das Knie verdreht und mein Vordermann hat meinen großen Zeh eingequetscht. Im Grunde nichts Schlimmes, verglichen mit den Geschichten anderer Backpacker, die bei einer kurzen Pause vom Busfahrer im Nirgendwo vergessen wurden.

Eintrag 6: Ruhe in der Höhe - Das Dorf Samaipata

Auf einer simplen Bank sitzend beobachte ich die Künste des Argentiniers Fernando, der sich mit Jonglage seine bereits zweijährige Reise durch die Länder Lateinamerikas finanziert. Barfuß, eine weite Stoffhose tragend und mit einem Haupt voller mächtiger Dreadlocks vollführt er geschickt komplizierte Tricks. Links neben mir klopft Alex aus Barcelona zum Rhythmus der spanischen Gitarre auf seine Oberschenkel. Johannes, ein Koch aus Hamburg, bereitet währenddessen in der zum Garten hin offenen Küche bolivianisch inspirierte Speisen aus lokalen Gemüse- und Obstsorten zu. Unglaublich günstig sind die regionalen Produkte bei den nahegelegenen Marktständen der Einheimischen zu erwerben. Eine schwarzweiß gefleckte Katze streicht neugierig zwischen unseren Beinen umher. Friedliche Idylle im Garten des "El Jardin"-Hostels in Samaipata, einem beliebten Aufenthaltsort alternativer Reisender. In dieser ruhigen Insel - durch einfache Lehmbauten scheinbar abgeschirmt vom Rest der Welt - finden sich in mildem Klima täglich Reisende aus aller Welt zu gemütlichen Abenden ein. Am Lagerfeuer lauscht man der bunten Sprachvielfalt und den Klängen verstimmter Gitarren. Zu den Liedern von Manu Chao kann fast ein jeder miteinstimmen. Allein beim allnächtlichen Weg zum Schlafraum gestaltet es sich in der alles verschlingenden Dunkelheit schwierig, nicht auf einen der Straßenhunde zu treten, die im Garten Zuflucht suchen. Dafür begleitet uns regelmäßig einer der Hunde, der großgewachsene und treue Mischling Simba auf unseren Streifzügen durch das Dorfzentrum Samaipatas.

Samaipata heißt übersetzt "Ruhe in der Höhe" und ist der wohlklingende Name, den das Quechua Volk dem Ort gab, in dessen überschaubaren Straßen, kleinen Lokalen, verschlafenen Gärten und beeindruckender Umgebung ich die vergangenen Tage verbrachte. Nicht grundlos ist das liebenswerte Dorf Wahlheimat zahlreicher Lebenskünstler aus aller Welt - angeblich sind 35 Nationen vertreten - die sich hier seit Jahrzehnten niederlassen. Samaipata, das umgeben von atemberaubenden Bergketten und mystischen Orten, zahllose Weitgereiste anzieht, ist zugleich ein beliebter Erholungsort für Familien aus dem nahegelegenen Santa Cruz, die am Wochenende durch die sonst leeren Straßen flanieren und die einsamen Becken der nahegelegenen Las Cuevas Wasserfälle in überfüllte Schwimmbäder verwandeln.

Während das Dorf unter der Woche oft verlassen wirkt, trifft sich die erwachsene Bevölkerung der Umgebung jeden Freitagabend im "La Boheme". Die gut besuchte Bar gehört einer jungen Australierin, die sich vor einigen Jahren in Samaipata niederließ und hier vor kurzem ihren ersten Sohn zur Welt brachte. Im Boheme kennt ein jeder jeden und auch Fremde werden schnell Teil der großen Dorfgemeinschaft. Hier lerne ich auch Alex kennen. Die gebürtige Österreicherin hat sich mit Mann und Tochter nach Reisen durch Indien, Asien und Südamerika vor sieben Jahren schließlich im beschaulichen Samaipata niedergelassen. Hier hat die Kleinfamilie mit Hilfe einiger Freiwilliger ohne spezielle Vorkenntnisse eine Bierbrauerei aufgebaut. Verkauft wird an Einheimische und an die Boheme Bar. Das Bockbier der kleinen Privatbrauerei schmeckt stark nach Hefe und macht mit seinem hohen Alkoholgehalt schnell betrunken. Die Barbesucher werden gesprächiger. So lerne ich auch den in Spanien und Deutschland aufgewachsenen Martin kennen. Mit langen Haaren und lässiger Kleidung sieht er eher nach Ende zwanzig aus, hat aber bereits seinen vierzigsten Geburtstag hinter sich. Aus alten Weinflaschen stellt er in langwierigen Prozessen handgearbeitete Designerlampen her, die er auf den Märkten von La Paz verkauft. Davon kann er in Bolivien gut leben.

Eintrag 5: Eine Reise in die Vergangenheit

Schon nach wenigen Tagen kenne ich beim Spaziergang durch das Dorf die meisten Gesichter, man grüßt sich. Doch ich bin ursprünglich weder wegen des Hostels noch wegen der interessanten Einwanderer nach Samaipata gereist. Es war die einzigartige Umgebung am Fuße der Cordillera Oriental, die mich anzog.

Tür an Tür findet man in Samaipata Agenturen die unterschiedlichste Touren in das Umland des Dorfes anbieten. Mich lockt zu Beginn die Vergangenheit. Eine halbe Stunde Taxifahrt von Samaipata entfernt, befindet sich die Ruinenstätte "El Fuerte de Samaipata". Die Festung vom Samaipata. Bereits vor den Inkas siedelten dort ab 2000 vor Christus erste Kulturen. In einen gewaltigen Sandstein am Gipfel des Berges sind Tierdarstellungen eingemeißelt. Ein Jaguar sowie eine Schlange sind zu erkennen. Dieser Stein fungierte, so der Konsens der Archäologen, als zeremonieller Ort. Es gibt aber auch Spekulationen, dass es sich bei El Fuerte um einen Landeplatz vorzeitlicher Raumschiffe handelt.

Von Samaipata aus erreicht man ebenfalls gut den gigantischen Amboró Nationalpark. Mit seinen etwa 430.000 Hektar beherbergt der zweitgrößte Nationalpark Lateinamerikas drei unterschiedliche Ökosysteme: Teile des Amazonas Beckens, die nördlichen Ausläufer des Chaco-Waldes und die tropischen und subtropischen Bergnebelwälder der Anden. Im Park leben Brillenbären, Pumas, Ozelots und mehrere Affenarten. Ferner wurden bereits über 800 Vogelarten, etwa 100 Reptilienarten und knapp 300 Schmetterlingsarten dokumentiert. Mit einem Reisepartner besuche ich die atemberaubende Los Volcánes Region. Inmitten mächtiger Bergketten, die ihrer Form wegen als Vulkane bezeichnet werden, liegt einsam auf einer grünen Wiese das Refugio Volcánes. Eine kleine familienbetriebene Unterkunft, die als Ausgangspunkt für Touren in die beeindruckende Umgebung dient. In Hängematten genießen die wenigen Besucher den einmaligen Ausblick und die Abgeschiedenheit. Einen kurzen Fußweg vom Refugio entfernt, findet der Wanderer bereits erste Wasserfälle, in deren Becken - umgeben von den hängenden Nestern zahlloser schwarz gelber Vögel - zu schwimmen, einfach glücklich macht. Verschiedene Bromelien- und Orchideenarten schmücken die Bäume. In einer wolkenbedeckten, stockfinsteren Nacht, entdecken wir funkelnde Augen im naheliegenden Gehölz. Es sind zahllose Glühwürmchen. Am nächsten Nachmittag verabschieden wir uns traurig vom Refugio, brechen aber bereits am darauffolgenden Tag zum Codo de los Andes auf. Nach einer zweistündigen Wanderung in einer kleinen Gruppe finden wir uns auf einer grünbewachsenen, weitläufigen, den Anden zugehörigen Bergkette wieder. Der offene und weite Ausblick ist grandios. Mit etwas Glück erspäht man nach oben blickend sogar die gigantischen Herrscher der südamerikanischen Lüfte. Die Kondore. Einen schulterhohen Fluss entlang watend, das Gepäck auf dem Kopf tragend, erreichen wir die schönen Las Cuevas Wasserfälle. Noch immer haben wir nicht genug gesehen. Mit dem kolumbianischen Biologen und Hobbiemaler Salvador brechen wir zu unserer letzten Tour auf. Wir besuchen den Cloud Forest, den Nebelwald des Amboró Nationalparks. Wir klettern durch ungezähmte Wildnis, verschwinden unter Riesenfarnen und lernen einige der zahlreichen Heilkräuter Boliviens kennen. Salvador zeigt uns, wie aus einem Ameisenhaufen mithilfe eines speichelbenetzten Holzstabs das Gift der Tiere, zugleich eine traditionelle Medizin gegen Magenbeschwerden, gewonnen werden kann.

Während meiner aufregenden Ausflüge wurde mir aus unerfindlichen Gründen meine Unterwäsche von der Leine im Garten des El Jardin Hostels gestohlen. In Samaipata finde ich keinen Ersatz und breche daher in die nächste große Stadt auf. Sucre, die angeblich schönste Stadt Boliviens.

Eintrag 4: Modernes Zentrum

Vor meiner Abreise nach Lateinamerika wurde mir mehrmals ans Herz gelegt, dass ich mich als Alleinreisende unauffällig kleiden soll. Möglichst weite, lange Stoffe, die hellen Haare mit einem Tuch oder ähnlichem bedeckt, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Schon kurz nach meiner Ankunft in Santa Cruz der la Sierra musste ich feststellen, dass ich mit dem mir empfohlenen Kleidungsstil ziemlich aus der Reihe tanzen würde. Die Kleidung der Bewohnerinnen der modernen Stadt ist meist bunt, chic und vor allem körperbetont und knapp! Schon in den ersten Minuten im Zentrum der größten Stadt Boliviens, die trotz der 1,6 Millionen Einwohner eher wie eine Kleinstadt anmutet, bemerkte ich deren Reichtum. Zahlreiche Cafés, Bars und Restaurants, ein modernes Einkaufszentrum, ein großes Kino, eindrucksvolle Kirchen und teure Autos, die von ihren Besitzern stolz um den zentralen Platz, den "Plaza de 24 de Septiembre" spazieren gefahren werden. Hier am Plaza, dem grünen und entspannten Mittelpunkt der Stadt, lässt sich unter den Palmen der Alltag der Stadtbewohner beobachten. Es wird Schach gespielt, junge Mütter sitzen mit ihren Kindern auf den schattigen Bänken, Jugendliche in Schuluniformen treffen sich mit Freunden, es werden Schuhe geputzt und es wird diskutiert. Am Halloween Abend finden sich hier zahlreiche Familien mit ihren verkleideten Kindern ein, um unter den Palmenbäumen das typisch amerikanische Fest zu feiern. Auch wenn sämtliche McDonalds-Filialen in Bolivien schließen mussten, gibt es hier mehrere andere Fast Food Ketten, wie Burger King. Auch eine bolivianische Kette ist häufig vertreten. Sie heißt "Pollo". Das ist Spanisch und bedeutet Hühnchen. Von Kulturschock kann im Zentrum von Santa Cruz kaum die Rede sein.

Eintrag 3: Traditionelles Randgebiet

Erst als ich den inneren Ring, der das Zentrum umfasst, verlasse, verändert sich das Stadtbild. Die Straßen sind nicht mehr ganz so sauber, die Menschen weniger modern gekleidet, die Wände mit Graffiti besprüht. Ich betrete eine lebendige und aufregende Welt, die Welt der Märkte. Hier gibt es alles, wirklich alles! Die einheimischen Cruceños verkaufen an ihren Ständen unter anderem Teddybären, Gürtel, Kleidung, Werkzeug, Heiligenbilder, Plastikblumen, Spielzeug und Kosmetikprodukte. Der Markt erstreckt sich über ein weites Netz aus Straßen. Zur Erfrischung wird Orangensaft angeboten. In diesen äußeren Seitenstraßen Santa Cruz, die so gänzlich anders sind, als das moderne Zentrum der Stadt, entdecke ich einige westlich aussehende Menschen, die sich scheinbar allzu übereifrig an die wohlgemeinten Kleidungsempfehlungen ihrer Bekannten gehalten haben und daher stark aus ihrer Umgebung herausstechen. Eine Frau verbirgt ihre Haare unter einer Haube und ihr Kleid ist lang und hochgeschlossen. Ein Mann trägt eine schwarze Sonntagsweste über einem weißen Hemd, dazu einen schwarzen Hut und gleichfarbige Hosen. In ihren altmodischen Gewändern wirken sie wie Zeitreisende. Wie ich später erfahre, sind es tatsächlich Menschen aus einer anderen Welt, es sind Altkolonie- Mennoniten und es ist in Santa Cruz nicht unüblich Männer in Latzhosen und Hemden mit Hut und Frauen in dunklen Kleidern mit Kopftuch anzutreffen.

Eintrag 2: Viele Mennoniten in Südamerika

Seit den 1950er Jahren entwickelt sich das vergleichsweise arme und von zahlreichen Konflikten geprägte Bolivien zu einem der Hauptansiedlungsgebiete für traditionelle Mennoniten in Südamerika. Die Mennoniten zählen zu den evangelischen Freikirchen. Ihr Name leitet sich von dem friesischen Prediger Menno Simons ab, der im Taufstreit von 1524 für die Mündigen- oder Erwachsenentaufe, also die Taufe in einem bewussten Alter eintrat. In Europa wurden die Mennoniten bis in das 20. Jahrhundert verfolgt, weil sie Wehrdienst und Kindestaufe ablehnten. Deshalb emigrierten zahlreiche Mennoniten nach Bolivien. Heute sind mennonitische Gemeinden über den gesamten Globus verteilt. Der Weg der Vorfahren der heute rund 50000 Mennoniten führte sie oftmals über Russland, Kanada und Mexiko. Die Mennoniten besitzen keine zentrale Kirchenleitung, weshalb sich die von Ältestenräten regierten Gemeinden häufig stark voneinander unterscheiden. Neben weltoffenen Strömungen existieren zahlreiche konservative Gemeinden wie die Altkolonier, deren Lebensstil sich an längst veralteten deutschen Bräuchen orientiert. Vor allem im Südosten Boliviens haben strenggläubige Altkolonier ihre neue Heimat gefunden. Um Santa Cruz liegen zahlreiche Gemeinden wie Nueva Holanda, Hoehenau, Swift Current, Chihuahua, Fresnillo und Nueva Esperanza.

Eintrag 1: Ein besonderes Dorf

Eine weitere Gemeinde ist Manitoba, das 150 Kilometer nordöstlich von Santa Cruz de la Sierra im bolivianischen Tiefland liegt. Sie verkörpert die rückgewandte und weltfremde Lebensweise äußerst traditioneller mennonitischer Gemeinden. Trotz unterschiedlicher Entwicklungen eint den Großteil aller mennonitischen Gemeinden weltweit die zentrale Stellung der Bibel, das Priestertum aller Gläubigen sowie die Trennung von Kirche und Staat. Im Alltag Manitobas sind sämtliche dieser Grundelemente ins Extreme gesteigert. Der Großteil der Bewohner spricht kein Spanisch, sondern ein veraltetes Friesisch, das auch für deutsche Muttersprachler kaum zu verstehen ist. Der Unterricht konzentriert sich fast ausschließlich auf das Bibellernen. Die Bibeln sind jedoch in Hochdeutsch verfasst, weshalb nur wenige Gläubige das Gelernte verstehen. Es kann sich folglich jeder Prediger die einzeln aus der Bibel herausgepickten und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate für seine Zwecke zurechtlegen. Das geschieht unabhängig vom Rest der Welt, denn die Bewohner der Ansiedlungen verlassen diese kaum und besitzen aufgrund der Technikfeindlichkeit ihrer Ältesten keinerlei Kommunikationsmöglichkeiten. Handys sind verboten, Radios und Zeitungen von außerhalb ebenfalls. Generell existieren viele Verbote: Strom, Musik, Tanz, Geschlechtsverkehr vor der Ehe und Spiele. Auch der Kontakt mit weltoffenen Mennoniten wird nur ungern gesehen. Zudem herrscht eine archaische Geschlechtertrennung vor. Frauen sind zuständig für Haus und Herd, Männer arbeiten auf dem Feld. Während es sich für den Großteil der Mennoniten in der Moderne immer schwieriger gestaltet staats- und weltfern zu leben, haben sich die bolivianischen Altkolonier Mennoniten eine Parallelwelt etabliert und können in Bolivien unbehelligt in einem von der Behörden kaum kontrollierten Landesteil so leben, wie es ihre Vorfahren seit hunderten von Jahren getan haben.

So mache sich der Reisende im modernen Santa Cruz auch auf die Begegnung mit den rückgewandten Bewohnern des Umlandes dieser Stadt gefasst.

Für mich ist Santa Cruz eine einfache Stadt, deren grüner Plaza und die ihn umgebenden Cafés zum Verweilen einladen. Nach ein paar Tagen habe ich mich aber sattgesehen und breche nun Richtung Samaipata auf, ein gemütliches bolivianisches Städtchen, eingerahmt von Natur und Bergen.

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Lena bestieg zusammen mit ihrer Freundin den Maccu Picchu in 2.300 Metern Höhe.

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Lena bestieg zusammen mit ihrer Freundin den Maccu Picchu in 2.300 Metern Höhe.

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Lena bestieg zusammen mit ihrer Freundin den Maccu Picchu in 2.300 Metern Höhe.

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Eva (links) und Lena sind stolz. Sie haben den Aufstieg zur Lagune 69 geschafft.

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Eva (links) und Lena sind stolz. Sie haben den Aufstieg zur Lagune 69 geschafft.

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Lenas Freundin Eva hatte beim Aufstieg mit Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit zu kämpfen.

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Die Minen des Cerro Rico.

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Eingangsbereich des Mercado Central in Sucre.

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Eine Heilerin auf dem Markt in Sucre bei der Arbeit.

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Ein Bad unterm Wasserfall.

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Blick auf Refugio los Volcanes.

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Codo de los Andes.

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Die El Fuerte Ruinen.

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Das El Jardin Hostel.

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Farne im Nebelwald.

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Hängende Nester.

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Ein Markt in Samaipata.

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Ein Meer aus Kuscheltieren in Santa Cruz.

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Ein klassischer Markstand in Santa Cruz.

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Die Unterkunft im Refugio.

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Der Plaza de 24 de Septiembre in Santa Cruz.

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Spielende Kinder.

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Im Zentrum von Santa Cruz.