Nach der Europawahl

„Weber braucht eine Mehrheit, er wird sie finden“


Manfred Weber ist der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des Kommissionspräsidenten.

Manfred Weber ist der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des Kommissionspräsidenten.

Es ist fast vier Uhr an diesem Montagmorgen, als auch die letzten Hoffnungsträger in Brüssel fassen können, dass ein Sturm durch diese Gemeinschaft gezogen ist.

Die beiden bisherigen Volksparteien Christ- und Sozialdemokraten verlieren - zusammengerechnet - soviel Mandate, dass man aus den Verlusten gut und gerne zwei Fraktionen hätte machen können. Und: Sie haben - gemeinsam - keine Mehrheit mehr. Rechte, Nationalisten und EU-Skeptiker können das europäische Abgeordnetenhaus zwar nicht lahmlegen, aber ihre Dominanz ist groß: Zusammen sind sie stärker als die bisherige christdemokratische Mehrheitsfraktion. Die deutschen Grünen reißen die Freunde in den übrigen Ländern mit und werden zu einem echten europäischen Schwergewicht. Nicht einmal im Heimatland der jugendlichen Klimaschutz-Aktivistin Greta Thunberg konnten sie zulegen.

"Wir erleben, wie die Mitte schrumpft", kommentierte Manfred Weber (CSU), der nun neuer Kommissionschef werden will. Aber das wollen zwei andere auch: Frans Timmermans, der die Sozialdemokraten in die Wahl geführt hatte, träumt noch in der Nacht von einer "progressiven Mehrheit", einer Art rot-rot-grünes Bündnis. Margrethe Vestager, Frontfrau des liberalen Führungsteams, will ebenfalls den wichtigsten Job in der Union, wirft gegen zwei Uhr in der Nacht ihr Alleinstellungsmerkmal in die Waagschale. Es sei "an der Zeit", betont sie, dass "eine Frau Kommissionspräsidentin wird". Dies sind die fast schon üblichen Geplänkel, die zu einer Wahl gehören, eine Art Säbelrasseln, um den Preis für eine fiktive Koalition im Europäische Parlament hochzutreiben. Dabei weiß jeder: Wenn die Abgeordneten sich nicht bald und schnell einigen, werden die Staats- und Regierungschefs am Dienstagabend die Initiative an sich reißen. Also muss man sich auf einen Bewerber einigen. Und der kann eigentlich nur Weber heißen. Denn die Europäische Volkspartei (EVP), der Dachverband der Christdemokraten, bleibt die stärkste Kraft im Europäischen Parlament. Für Liberale und Sozialdemokraten werden andere Jobs bleiben - der Parlamentspräsident? EU-Ratspräsident? Der oder die Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik? "Die starken Ergebnisse für die Rechten zwingen uns zu, zusammenzuhalten", sagt ein hochrangiger Liberaler am frühen Morgen. Schon am Montag wollen die Fraktionen miteinander verhandeln. "Weber braucht eine Mehrheit, er wird sie finden", ist ein Sozialdemokrat überzeugt. "Das wird keine Liebesheirat, aber eine Vernunftehe - und solche Bündnisse können ja auch funktionieren."

Schwarz, Rot, Gelb und Grün - sie alle stehen unter Druck, um dem Ansturm von EU-Gegner und -Skeptikern etwas entgegenzusetzen: Ungarn, Italien, Tschechien, Frankreich, Slowakei, Polen - überall haben diese Parteien massive Zuwächse bekommen. Zwar verlor der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders alle seine Parlamentsmandate, dafür zieht aber sein jugendlicher Gesinnungsgenosse Thierry Baudet mit neuer Partei und gleichem Gedankengut in die Abgeordnetenkammer ein. Der britische EU-Gegner Nigel Farage wird zur stärksten Kraft in seinem Land - was nur ein vorübergehendes Problem bleiben dürfte, da er nach dem Brexit schon wieder Geschichte ist. Matteo Salvini und Marine Le Pen schicken ein deutlich gestärktes Kontingent ins Parlament. Die ungarische Fidesz, die Regierungspartei von Premierminister Viktor Orbán, legt deutlich zu. Die österreichische FPÖ trotz der Ibiza-Affäre verliert nur wenig. Wer dieser Macht etwas entgegensetzen will, muss sich verständigen. "Wir werden eine Regenbogen-Koalition haben, die Europa weiterbringt", sagt Joseph Daul. Parteichef der christdemokratischen EVP. "Manfred Weber steht fortan an der Spitze der Kommission." Das war am frühen Montagmorgen, die Gespräche hatten bereits begonnen. Es habe einen ersten Kontakt zwischen Weber und Timmermans sowie dem bisherigen liberalen Fraktionschef Guy Verhofstadt gegeben, wird bestätigt. Man müsse schließlich verhindern, dass Salvinis bitterer Satz Wirklichkeit werde. Der italienische Lega Nord-Chef hatte in der Nacht gesagt: "Die Wahl von heute sagt uns, dass sich die Regeln Europas ändern werden." Das will die bunter gewordene Mitte des neuen Europäischen Parlamentes verhindern.