Kommentar

„Weiter so“ wäre Selbstmord


Von Tanja Pfeffer

Jetzt ist es passiert. Nach 43 Jahren als Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union sagt das Vereinigte Königreich Goodbye. In diesen 43 Jahren haben sich die Briten unter den anderen Mitgliedstaaten nicht viele Freunde gemacht - eine Extrawurst nach der anderen wollten sie gebraten haben. Wir sollten ihnen nach dem Austritt nicht noch weitere nachwerfen. Sonst geht es mit Europa den Bach hinunter.

Eines vorweg: Die Entscheidung der Briten ist grundfalsch, sie ist kurzsichtig und richtet sich gegen ihre ureigenen Interessen. Nur die jahrzehntelange antieuropäische Lügenpropaganda großer Teile des politischen Establishments hat dieses Votum überhaupt ermöglicht. Nationale Befindlichkeiten und ein tief verwurzeltes Misstrauen gegen "die in Brüssel" zählten dabei mehr als rationale Überlegungen.

Und dennoch ist das Votum natürlich zu respektieren und gehört jetzt umgesetzt. Bei aller Enttäuschung über das Ergebnis: Es war richtig, dem britischen Volk nach Jahrzehnten des Streits endlich die Möglichkeit zu geben, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Die Briten haben sich dafür entschieden, sich ins eigene Knie zu schießen. Sie waren eben immer schon etwas verhaltensoriginell. Aber so ist eben Demokratie. Andere Völker in Europa, die Deutschen an erster Stelle, wären froh, wenn sie einmal selber über elementare politische Fragen entscheiden dürften.

Für die Briten hat am Freitagmorgen, als das Ergebnis bekannt wurde, eine jahrelange Periode schmerzlicher Instabilität begonnen. Der Wertverfall des Pfunds und das Minus an der Börse dürften da nur der Anfang gewesen sein. Ein wesentlicher Teil des Finanzplatzes London, auf dem der Wohlstand Englands maßgeblich beruht, wird sich in nächster Zeit wohl auf das Festland zurückziehen. Das britische Bruttoinlandsprodukt dürfte um mehrere Prozentpunkte zurückgehen, die Arbeitslosigkeit steigen und die Kaufkraft alleine schon durch den Wertverlust des Pfunds sinken. Harte Jahre stehen bevor.

Aber auch die Zukunft des Vereinigten Königreichs selbst steht auf dem Spiel. Das mehrheitlich proeuropäische Schottland wird ihm wohl nicht mehr allzu lang angehören. Im Jahr 2014 hatten sich die Schotten mit nur 55 Prozent Mehrheit für einen Verbleib im Königreich entschieden - viele stimmten damals gegen die Unabhängigkeit, weil das ein Ausscheiden aus der EU und entsprechende wirtschaftliche Nachteile mit sich gebracht hätte. Dieses Argument ist jetzt weggefallen. Es wird eine zweite Volksabstimmung über die Unabhängigkeit geben - und ein Beitrittsgesuch eines unabhängigen Schottland wird die EU in ihrer derzeitigen Krise wohl mit Handkuss annehmen.

Auch Nordirland hat mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt. In Zukunft wird durch die Insel eine EU-Außengrenze verlaufen, die die Iren im Norden von den Iren im Süden trennt. Kein Wunder, dass irische Nationalisten in Nordirland den Brexit zum Anlass nehmen, eine Volksabstimmung über eine Wiedervereinigung des Landes zu fordern. Diese Frage wäre früher oder später angesichts der demografischen Entwicklung in Nordirland - bald wird es dort mehr Katholiken als Protestanten geben - ohnehin virulent geworden. Jetzt gießt der britische EU-Austritt neues Öl ins Feuer eines überwunden geglaubten Konflikts.

Und selbst das kleine Gibraltar steht vor einer ungewissen Zukunft. Die Einwohner der Kronkolonie an der spanischen Südküste haben zu 96 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt. Die lokale Wirtschaft ist zu großen Teilen auf die EU-Mitgliedschaft angewiesen. Wie es dort weitergeht, ist völlig offen.

Die Brexit-Befürworter hatten ans imperiale Erbe appelliert und Träume von einer neuen Rolle in der Welt geträumt. Stattdessen haben sie ein Kleinbritannien geschaffen.

Die größere Frage, die sich jetzt stellt, ist aber: Wie geht es weiter mit der Europäischen Union? Denn dass sich die EU ändern muss, steht außer Frage. Sie war schon vor dem Referendum in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. In vielen Bereichen kann die Union deshalb die anstehenden Probleme nicht lösen, weil die Nationalstaaten es nicht wollen. Allen voran Großbritannien hat sich immer wieder dagegen gesperrt, die EU demokratischer und schlagkräftiger zu machen. Früher oder später hätte man wohl ohnehin getrennte Wege gehen müssen.

Die EU muss mehr sein als ein gemeinsamer Markt, wenn Europa in der Welt noch mitreden will. Die europäischen Länder mögen eine große Vergangenheit haben - aber in der globalisierten Welt von heute sind sie kleine Lichter, und das gilt sogar für Schwergewichte wie Frankreich und Deutschland. Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise, der Klimawandel oder die Finanzkrise machen nicht an nationalen Grenzen halt. Wir können sie nur gemeinsam lösen. Dazu brauchen wir gemeinsame Institutionen, die auch große Entscheidungen treffen können, ohne vorher jahrelang in Hinterzimmern Deals unter 27 oder 28 Regierungen verhandeln zu müssen. Exemplarisch zeigt sich das am Beispiel der Euro-Krise: Die gemeinsame Währung ist eine gute Sache, nicht nur, weil sie das Reisen ins Ausland leichter macht, sondern weil damit bürokratische Hürden und Währungsrisiken im Binnenmarkt wegfallen. Das steigert unser aller Wohlstand. Aber auf Dauer, das hat das Gezerre um Griechenland gezeigt, kann es eine gemeinsame Währung nicht ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik geben. Und die wiederum kann nicht ohne gemeinsame Sozialpolitik funktionieren. All das gibt es nicht, weil die Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich allen voran, es nicht wollen.

Der Brexit kann eine Chance sein, die EU grundlegend neu und demokratischer aufzustellen - mit einer echten Regierung, die dem demokratisch gewählten Parlament verantwortlich ist, mit Volksbegehren und Volksentscheiden auf europäischer Ebene, mit einem Subsidiaritätsprinzip, das diesen Namen verdient und dafür sorgt, dass jede politische Ebene das macht, was sie am besten kann, und im Zweifel so nah am Bürger entschieden wird wie möglich. Dazu muss rasch und entschlossen gehandelt werden. Ein "Weiter so" wäre Selbstmord.

Als Erstes stellt sich jetzt die Frage, wie die EU ihre Scheidung von den Briten regelt. Soll man ihnen so weit wie möglich entgegenkommen, sie zu einem privilegierten Partner machen, der möglichst alle Vorrechte eines EU-Mitglieds hat, ohne die Kosten tragen zu müssen?

Nein. Viel besser wäre es, zwar fair, aber hart zu bleiben. "Out is out", sagt Wolfgang Schäuble. Der Bundesfinanzminister hat recht: Wer aus der EU austritt, der tritt eben aus. Ansonsten geht die britische Rosinenpickerei außerhalb der EU weiter - und der Brexit wird zum Vorbild für andere: für Marine Le Pen in Frankreich, für Geert Wilders in den Niederlanden, für Heinz-Christian Strache in Österreich. Dann wird die EU endgültig zum Selbstbedienungsladen.