Flüchtlingskrise

"Schmutziger Deal": Die Pressestimmen zu den EU-Verhandlungen mit Erdogan


Pakt mit dem Teufel oder sinnvoller Kompromiss? Sollte die EU in der Flüchtlingskrise Zugeständnisse an Erdogan machen?

Pakt mit dem Teufel oder sinnvoller Kompromiss? Sollte die EU in der Flüchtlingskrise Zugeständnisse an Erdogan machen?

Die Flüchtlingskrise zwingt Europa dazu, mit der Türkei zusammenzuarbeiten. Einem Land, das in Sachen Pressefreiheit und seinem Verhalten im Kurdenkonflikt immer wieder in der Kritik steht. Warum, das zeigt schon ein Blick auf die Landkarte: Die Türkei liegt zwischen dem umkämpften Syrien und dem friedlichen Europa. Doch das Verhältnis ist schwierig. Am Montag war Recep Tayyip Erdogan deswegen zu Besuch in Brüssel. Dass ihm bewusst ist, dass die EU ihn braucht, war dem türkischen Staatschef jederzeit anzumerken. Droht ein "schmutziger Deal" zwischen der Türkei und der EU? Die Pressestimmen:

Saarbrücker Zeitung: "So etwas nennt man Realpolitik"
Die europäische Außenpolitik hat sich verändert. Denn die Einsicht, dass man funktionierende Strukturen in den Ländern Nordafrikas und des arabischen Raums nicht zerschlagen darf, hat sich durchgesetzt. Das abschreckende Beispiel heißt Libyen, wo man erst einen Diktator weggebombt hat und anschließend in einem Land, das im Bürgerkrieg versinkt, keinen machtvollen Ansprechpartner mehr hatte. So etwas nennt man Realpolitik. (...) Das mag akzeptabel erscheinen, so lange es nicht zur Erpressung kommt. Tatsächlich aber steht die Union mit dem Rücken zur Wand. Erdogan wusste das, als er gestern in Brüssel verhandelte.

Sächsiche Zeitung: "Ein fader Nachgeschmack bleibt"
Die Union steht mit dem Rücken zur Wand. Erdogan wusste das, als er gestern in Brüssel verhandelte und einen Aktionsplan herausschlug. Der Deal mag aufgehen, wenn sich die europäischen Staatenlenker an die verabredeten Maßnahmen halten. Aber ein fader Nachgeschmack bleibt. Weil die Union zur Marionette eines Mannes zu werden droht, der vor keinem Mittel der Machtpolitik zurückscheut. Die Türkei braucht nicht mehr zu tun, als Millionen syrische Flüchtlinge ungehindert durchzulassen, um Europa zu destabilisieren. Erdogan sitzt am Drücker.

Flensburger Tagblatt: "Es wäre ein schmutziger Deal"
Die finanzielle Unterstützung der Türkei beim Aufbau von Flüchtlingslagern ist wichtig, denn aktuell ist die Lage in den dortigen Lagern schlichtweg katastrophal. Außerdem hat das Nachbarland Syriens längst die 1,5-Millionen-Marke, die derzeit als Schreckensprognose durch Deutschland geistert, geknackt. Es ist aber Vorsicht geboten: Europa darf nicht aus dem schlichten Bedürfnis heraus, dass weniger Menschen die EU-Grenzen überschreiten sollen, der Türkei gegenüber Zugeständnisse beim harten Vorgehen gegen die Kurden machen. Genau das wird der türkische Präsident Erdogan versuchen. Es wäre ein schmutziger Deal, bei dem der türkisch-kurdische Konflikt weiter befeuert wird - und damit nur noch für mehr Menschen ein Fluchtgrund entsteht.

Die Welt: "Es ist Zeit, an den Bosporus zurückzukehren"
Die EU ist unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise endlich bereit, das zu tun, was sie seit Ausbruch der Syrien-Krise 2011 versäumt hat: bei der Unterbringung der zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei zu helfen. Zusammenarbeit und Hilfe bedeuten nicht, dass die zunehmend autoritären und islamistischen Züge Erdogans zu ignorieren wären. Auch wird man weder in Brüssel noch Berlin oder Washington vergessen, wie lange Erdogan gezögert hat, sich der Koalition gegen den IS anzuschließen. Gewiss trägt er eine Mitverantwortung für die bei uns anschwellende Zahl der Flüchtlinge. Erdogan hat sich von Europa entfernt. Aber die allein auf die Euro-Krise fokussierte EU ließ ihn ziehen. Dieses fatale Disengagement hat sich als unhaltbar erwiesen. Es ist Zeit, an den Bosporus zurückzukehren.

Schwäbische Zeitung: "Fauler Handel gefährdet Glaubwürdigkeit"
Natürlich muss sich die EU finanziell angemessen an den Lagern für mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei beteiligen. Für die Soforthilfe, die dort geleistet wird, ist nicht die Türkei allein, sondern die Weltgemeinschaft zuständig. Eine darüber hinausgehende Zusammenarbeit wie gemeinsame Grenzpatrouillen oder die Errichtung einer Pufferzone auf syrischem Boden wäre aber mit europäischen Grundsätzen nicht vereinbar. Viele Europäer betrachten den südöstlichen Nachbarn hauptsächlich als nützlich. Als Pufferstaat zum im Chaos versinkenden Mittleren Osten wird die Türkei von EU und Nato gleichermaßen geschätzt. Das mag für das militärische Zweckbündnis Nato noch angehen. Die EU aber versteht sich als Wertegemeinschaft. Ein fauler Handel mit Erdogan könnte ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig erschüttern. Die Europäer, die bis vor Kurzem die Kurden in Syrien im Kampf gegen den IS unterstützten, paktieren nun mit dem Mann, der die kurdische Emanzipation rückgängig machen will.