EM 2016

Island im EM-Rausch: "Weckt mich nie aus diesem verrückten Traum!"


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Die Isländer können es nicht fassen: Ihr Sommermärchen geht weiter. Die Insel dürfte zum Viertelfinale wie ausgestorben sein. Denn die ganze Nation will nach Paris - und träumt jetzt schon vom Titel.

Nach dem Abpfiff im Stadion in Nizza gibt es für den isländischen Kultkommentator Gudmundur Benediktsson kein Halten mehr: "Wir gehen nach Paris! Ich traue meinen Augen nicht. Weckt mich nie auf! Weckt mich nie aus diesem verrückten Traum auf!", brüllt der Isländer in sein Mikrofon, nachdem Außenseiter Island die Fußballnation England im Achtelfinale der EM geschlagen hat.

Niemand bringt die Stimmung der Isländer gerade so auf den Punkt wie der Fußballexperte. Die ganze Nation träumt mit ihm, und reibt sich ungläubig die Augen. Vor allem aber wollen ganz, ganz viele Isländer eins: zum Viertelfinale nach Frankreich.

"Wir versuchen jetzt, so viele Leute wie möglich nach Paris zu bekommen. Wir haben drei Flüge am Tag, aber die werden wahrscheinlich schnell voll sein. Dann gibt es andere Wege", sagt Gudjon Arngrimsson, Sprecher der Fluglinie Icelandair. Die Webseite der Airline Wow Air bricht nach dem Sieg gegen England zusammen.

Arbeit, Schule, der Alltag auf der Insel - das ist gerade alles egal. "Wir ziehen das jetzt durch. Jeder geht nach Frankreich und unterstützt die Jungs. So einfach ist das", sagt ein Fan, der sich das Spiel auf dem Hügel Arnarhóll in der Innenstadt angesehen hat - zusammen mit rund zehntausend anderen Isländern, in blauen Trikots und mit Wikingerhelmen auf dem Kopf. Nicht mal im Stadion in Nizza war es an diesem Abend so laut wie in der isländischen Hauptstadt.

Nach dem Spiel ringen etliche Fans um Fassung. "Ich dachte nicht, dass das überhaupt möglich ist", sagt einer von ihnen dem dänischen Sender DR. "Oh mein Gott! Oh mein Gott! Islaaaaaand!" Der junge Mann mit Irokesen-Frisur ist den Tränen nah und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "Man kann das hier nur lieben, es ist unmöglich, es nicht zu tun. Ich bin so beeindruckt, ich bin so stolz, aus Island zu sein!"

Feuerwerke sind in Reykjavík eigentlich verboten, und der sommerliche Abendhimmel ist ohnehin so hell, dass man sie kaum sehen kann, trotzdem schießen die Isländer in dieser historischen Nacht Raketen in die Luft über der Hauptstadt. "Freundliche Bitte an die Polizei - bitte niemanden festnehmen. Heute ist das ok", bittet Fernsehkommentator Thorsteinn J. Vilhjalmsson die Ordnungshüter.

Isländer wie Terrier

Heute ist alles ok. Denn ganz Island ist im Fußballrausch. Eine Nation mit so vielen Einwohnern wie Premier-League-Sieger Leicester: 330.000. Eine Nation, die noch nie zuvor in der Endrunde eines großen Turniers stand, die die Engländer mit leidenschaftlichem Fußball blamiert hat und ungeschlagen im Achtelfinale steht. Wie Terrier hatten sich die isländischen Fußballhelden an die Fersen der Engländer geheftet und ihnen einen Ball nach dem anderen abgejagt.

"Das hier wird unser Leben verändern", sagt Trainer Heimir Hallgrimsson und spricht damit das aus, was viele Isländer fühlen. So stark hat sich das kleine Land lange nicht gefühlt. Die Begeisterung für Hallgrimssons gleichberechtigten Trainerkollegen Lars Lagerbäck ist so groß, dass einige der Inselbewohner ihn zu ihrem Präsidenten machen wollten. Bei der Wahl am Samstag kritzelten sie den Namen des Schweden auf den Stimmzettel.

Der Fußballerfolg der kleinen Nation lässt niemanden auf der Insel kalt. Fernsehmoderatorin Maria Sigrun Hilmarsdottir trägt die 22-Uhr-Nachrichten im Island-Trikot vor. Und der Chef des isländischen Wettanbieters Islensk getspa, Stefán Konráðsson, schreibt auf Twitter: "Wir haben Millionen wegen dieses Ergebnisses verloren, aber ich fühle mich trotzdem großartig."

Nur um eins machten sich die Isländer zwischenzeitlich Sorgen: den Gesundheitszustand ihres Fußballexperten Gudmundur Benediktsson, der beim Achtelfinal-Einzug Islands völlig in Ekstase geraten war und bis zum Komplettversagen der Stimme kommentiert hatte. Am Montagabend läuft Benediktsson aber wieder zu Höchstform auf.

"Buht, soviel ihr wollt, Engländer!", sagt er nach dem Abpfiff. "Island fährt jetzt zum Stade de France. Frankreich - Island. Ihr könnt nach Hause gehen! Ihr könnt Europa verlassen! Ihr könnt hingehen, wo ihr wollt! England 1 - Island 2 in Nizza, und das Abenteuer geht weiter. Und dieses Abenteuer wird wahrscheinlich nie enden. Vielleicht am 10. Juli (zum Finale) im Stade de France. Das ist praktisch unser Heimstadion! Wir werden dort Frankreich treffen. Genießt es, Frankreich! Genießt, auf die isländische Wand zu treffen. Die isländische Wand, die in Frankreich die Welt erobert."