Interview

Wahlen zum Präsidialsystem in der Türkei: Die heiße Phase


Was ist in der Türkei gerade los? Wir haben uns umgehört.

Was ist in der Türkei gerade los? Wir haben uns umgehört.

Von red

Was halten türkeistämmige Jugendliche vom Ausnahmezustand in der Türkei, den Erdogan-Wählern und Wahlkampf in Deutschland? Der 21-jährige Sinan Baygin aus der Nähe von Plattling und der 23-jährige Kamer Güler aus Regensburg sind in Deutschland geboren und haben uns Antworten gegeben.

Alle unterstrichenen Begriffe sind unten kurz erklärt.

Wie schätzt ihr die aktuellen Entwicklungen in der Türkei ein?

Kamer: Die Türkei befindet sich seit dem Putschversuch im Juli 2016 im Ausnahmezustand und wird durch Dekrete regiert. Eine Verfassungsänderung wird dringend benötigt, allerdings wird der vorgelegte Entwurf zur Wahl des Präsidialsystems die Probleme auf keinen Fall lösen. Wenn die türkische Bevölkerung für dieses System stimmt, wird sich der jetzige Zustand verfestigen und es wird keine Hoffnung auf Besserung geben.

Sinan: In der Türkei gibt es schon seit langem keine Demokratie mehr. Das Land befindet sich auf dem Weg in eine Diktatur. Das wird auch dadurch deutlich, dass Journalisten und Abgeordnete grundlos verurteilt werden. Die türkische Regierung hat ihre Macht über die Jahre spezifisch aufgebaut. Durch den Ausnahmezustand werden Proteste noch erschwert. Das Präsidialsystem würde die Türkei offiziell zur Diktatur machen. Präsident Erdogan hätte dann alle Macht und Gegenpole wären ausgeschaltet.

Die anstehende Wahl für oder gegen das Präsidialsystem spaltet das Land. Wie seht ihr die Abstimmung?

Kamer: Bedenklich finde ich, dass die möglichen "Nein-Sager" schon als Terroristen gelten. Ich denke, dass zum Beispiel Festnahmen politischer Gegner noch zunehmen werden. Persönlich fühle ich mich nicht eingeschüchtert. Ich finde es nur erschreckend, dass so viele Menschen zusehen und nichts unternehmen. Viele Wähler haben keine Ahnung, was in dem Referendum steht. Ihr einziges Ziel ist es, Erdogan so lange wie möglich als Staatsoberhaupt zu behalten. Viele Wähler haben sich mit den Inhalten des Referendums gar nicht befasst.

Sinan: Bisher fühle ich mich von den gegensätzlichen Meinungen nicht eingeschüchtert oder beeinflusst.

Was haltet ihr davon, dass türkische Politiker Wahlkampf in Deutschland veranstalten?

Kamer: Das Kuriose ist, laut türkischem Wahlgesetz ist Wahlkampf in anderen Ländern verboten. Ich persönlich habe nichts gegen geregelte Veranstaltungen, da in Deutschland viele Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit leben und sie somit die Möglichkeit haben, einen besseren Einblick in das Ganze zu bekommen. Im Gegenzug sollten dann auch Gegner des Referendums die Möglichkeit nutzen dürfen. Bedenklich ist, dass Mitglieder der AKP für den Wahlkampf ungehindert in andere Länder reisen können, während viele Oppositionelle ihre Immunität verloren haben und daher nicht aus der Türkei ausreisen dürfen. Dadurch macht nur die Regierungspartei Wahlkampf in Deutschland und gegnerische Stimmen kommen nicht zu Wort. Meiner Meinung nach hat die AKP jeden dieser Schritte lange und akribisch geplant. Die Regierung rund um Erdogan nutzt jeden noch so kleinen Fehler im System zu ihren Gunsten aus.

Sinan: Generell hat jeder das Recht, seine Meinung unter die Menschen zu bringen. Der Wahlkampf der AKP gleicht allerdings einer Hetz-Kampagne und das ist nicht in Ordnung. Dass Erdogan auch türkischen Journalisten in Deutschland den Riegel vorschieben will, geht viel zu weit.

Welche weiteren Entwicklungen erwartet ihr bis zur Wahl?

Kamer: Seit Montag, 27. März, dürfen Bürger mit türkischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland leben (rund 1,4 Millionen Wahlberechtigte, Anm. d. Red.), ihre Stimme abgeben. Die "Ja-Sager" und die "Nein-Sager" werden vermehrt Wahlkampf machen, aber auch die Proteste werden zunehmen. Die heiße Phase hat begonnen.

Sinan: Ich hoffe, die meisten Bürger stimmen mit Nein. Das ist aber, befürchte ich, kein endgültiges Hindernis. Erdogan wird nicht aufgeben, bis er hat, was er will. Ein Nein wäre aber trotzdem Hoffnungsschimmer und Motivation für viele Menschen in der Türkei und in anderen Ländern. Die Inhalte und das System sind aber schwer zu ändern.

Mitreden

Putschversuch und Ausnahmezustand: Vergangenes Jahr versuchten Mitglieder des Militärs, die türkische Regierung zu stürzen. Seitdem befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Dieser gilt noch bis zum 19. April, falls er nicht vorher von der Regierung aufgehoben wird.

Dekret: Das ist eine Verordnung des Präsidenten. Es hat die Kraft eines Gesetzes.

Präsidialsystem: Am 16. April wird in der Türkei über das Präsidialsystem abgestimmt. Der Präsident hätte damit die meiste Macht. Erdogan könnte mithilfe des Präsidialsystems theoretisch bis 2034 regieren.

AKP: Die AKP ist die islamisch-konservative Regierungspartei, zu der auch Präsident Erdogan gehört.

Die andere Seite

Als Journalisten sind wir bemüht, immer beide Seiten einer Sache darzustellen. Das haben wir auch hier versucht und in Landshut, Deggendorf und Straubing Personen kontaktiert, die Präsident Erdogan und der aktuellen Regierung nahestehen und die Partei AKP unterstützen. Leider erklärte sich keiner dazu bereit, sich bei uns in der Freistunde dazu zu äußern.

Die Redaktion

Kamer Güler (links) und Sinan Baygin.

Kamer Güler (links) und Sinan Baygin.